Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_137.001 Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen pst_137.013 So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den pst_137.018 pst_137.001 Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen pst_137.013 So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den pst_137.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0141" n="137"/><lb n="pst_137.001"/> Ereignis des Reifens, ja sogar schon des bloßen Alterns. <lb n="pst_137.002"/> In der «Ilias» fällt das weiter nicht auf, da die Handlung <lb n="pst_137.003"/> dort im Ganzen nur einundfünfzig Tage füllt. <lb n="pst_137.004"/> Odysseus aber ist immer der Mann in mittleren Jahren, <lb n="pst_137.005"/> schon wie er nach Troia kommt, dann während des <lb n="pst_137.006"/> Feldzugs, der zehn Jahre dauert, und während der <lb n="pst_137.007"/> Heimfahrt, die wieder ein volles Jahrzehnt beansprucht. <lb n="pst_137.008"/> Ebenso Penelope. Nach zwanzig Jahren erscheint sie <lb n="pst_137.009"/> noch als dieselbe reife, umworbene Frau, als die sie <lb n="pst_137.010"/> Odysseus verlassen hat, und darf nach seiner Rückkehr <lb n="pst_137.011"/> noch langer glücklicher Ehe entgegensehen.</p> <lb n="pst_137.012"/> <p> Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen <lb n="pst_137.013"/> dem Epos und dem Roman, der, nach spätantiken <lb n="pst_137.014"/> Vorläufern, als eine christliche Erfindung den Menschen <lb n="pst_137.015"/> in zeitlicher Spannung als wesentlich sich entwikkelndes <lb n="pst_137.016"/> Wesen zeigt.</p> <lb n="pst_137.017"/> <p> So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den <lb n="pst_137.018"/> Tag hinein. Er freut sich des Tages und seines Lichts <lb n="pst_137.019"/> und sorgt sich nicht ängstlich darüber hinaus, weder <lb n="pst_137.020"/> um das Ende der Tage noch um eine nähere Zukunft. <lb n="pst_137.021"/> Gibt es hier aber nicht dennoch Vorausblick? Sind nicht <lb n="pst_137.022"/> Orakel und Seher da, Kalchas bei den Griechen, Helenos <lb n="pst_137.023"/> bei den Troianern, Teiresias, dem Odysseus in Tiefen <lb n="pst_137.024"/> des Hades begegnet? Gewiß! Und sie werden umständlich <lb n="pst_137.025"/> befragt. Aber – das ist das Verblüffende – bei aller <lb n="pst_137.026"/> Ehrfurcht vor der Kunst des Sehers, bei aller kindlichen <lb n="pst_137.027"/> Neugier nimmt man doch seine Sprüche nicht ernst. In <lb n="pst_137.028"/> der tragischen Dichtung sind ganze Schicksale durch <lb n="pst_137.029"/> Orakel bestimmt, sei es, daß der Held, wie Orest, nach <lb n="pst_137.030"/> dem Beschluß des Gottes handelt, sei es, daß er sich ihm <lb n="pst_137.031"/> widersetzt, wie König Ödipus, und dem, was verfügt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [137/0141]
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Ereignis des Reifens, ja sogar schon des bloßen Alterns. pst_137.002
In der «Ilias» fällt das weiter nicht auf, da die Handlung pst_137.003
dort im Ganzen nur einundfünfzig Tage füllt. pst_137.004
Odysseus aber ist immer der Mann in mittleren Jahren, pst_137.005
schon wie er nach Troia kommt, dann während des pst_137.006
Feldzugs, der zehn Jahre dauert, und während der pst_137.007
Heimfahrt, die wieder ein volles Jahrzehnt beansprucht. pst_137.008
Ebenso Penelope. Nach zwanzig Jahren erscheint sie pst_137.009
noch als dieselbe reife, umworbene Frau, als die sie pst_137.010
Odysseus verlassen hat, und darf nach seiner Rückkehr pst_137.011
noch langer glücklicher Ehe entgegensehen.
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Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen pst_137.013
dem Epos und dem Roman, der, nach spätantiken pst_137.014
Vorläufern, als eine christliche Erfindung den Menschen pst_137.015
in zeitlicher Spannung als wesentlich sich entwikkelndes pst_137.016
Wesen zeigt.
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So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den pst_137.018
Tag hinein. Er freut sich des Tages und seines Lichts pst_137.019
und sorgt sich nicht ängstlich darüber hinaus, weder pst_137.020
um das Ende der Tage noch um eine nähere Zukunft. pst_137.021
Gibt es hier aber nicht dennoch Vorausblick? Sind nicht pst_137.022
Orakel und Seher da, Kalchas bei den Griechen, Helenos pst_137.023
bei den Troianern, Teiresias, dem Odysseus in Tiefen pst_137.024
des Hades begegnet? Gewiß! Und sie werden umständlich pst_137.025
befragt. Aber – das ist das Verblüffende – bei aller pst_137.026
Ehrfurcht vor der Kunst des Sehers, bei aller kindlichen pst_137.027
Neugier nimmt man doch seine Sprüche nicht ernst. In pst_137.028
der tragischen Dichtung sind ganze Schicksale durch pst_137.029
Orakel bestimmt, sei es, daß der Held, wie Orest, nach pst_137.030
dem Beschluß des Gottes handelt, sei es, daß er sich ihm pst_137.031
widersetzt, wie König Ödipus, und dem, was verfügt
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