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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder pst_130.002
in das nächste Dorf einschlägt.

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Unter den "Teilen" haben wir den Anfang, die pst_130.005
Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos pst_130.006
verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich pst_130.007
und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens pst_130.008
selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die pst_130.009
einzigartige Kraft Homers.

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Hegel erklärt in seiner "Ästhetik", der Alexanderzug pst_130.011
könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil pst_130.012
das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre, pst_130.013
sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben pst_130.014
sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der pst_130.015
"Ilias". Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur pst_130.016
im Sinn eines "primus inter pares". Wehe ihm, wenn pst_130.017
er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen! pst_130.018
Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen, pst_130.019
man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe pst_130.020
es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von pst_130.021
dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der pst_130.022
Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten pst_130.023
Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er pst_130.024
sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern, pst_130.025
die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen:

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"So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!"
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In diesen Versen scheint sich jedoch ein älterer Mythos pst_130.028
erhalten zu haben, die Spur einer ungeheueren Welt,

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im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder pst_130.002
in das nächste Dorf einschlägt.

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  Unter den «Teilen» haben wir den Anfang, die pst_130.005
Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos pst_130.006
verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich pst_130.007
und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens pst_130.008
selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die pst_130.009
einzigartige Kraft Homers.

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  Hegel erklärt in seiner «Ästhetik», der Alexanderzug pst_130.011
könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil pst_130.012
das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre, pst_130.013
sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben pst_130.014
sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der pst_130.015
«Ilias». Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur pst_130.016
im Sinn eines «primus inter pares». Wehe ihm, wenn pst_130.017
er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen! pst_130.018
Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen, pst_130.019
man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe pst_130.020
es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von pst_130.021
dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der pst_130.022
Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten pst_130.023
Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er pst_130.024
sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern, pst_130.025
die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen:

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«So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!»
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[130/0134] pst_130.001 im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder pst_130.002 in das nächste Dorf einschlägt. pst_130.003 5. pst_130.004   Unter den «Teilen» haben wir den Anfang, die pst_130.005 Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos pst_130.006 verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich pst_130.007 und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens pst_130.008 selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die pst_130.009 einzigartige Kraft Homers. pst_130.010   Hegel erklärt in seiner «Ästhetik», der Alexanderzug pst_130.011 könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil pst_130.012 das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre, pst_130.013 sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben pst_130.014 sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der pst_130.015 «Ilias». Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur pst_130.016 im Sinn eines «primus inter pares». Wehe ihm, wenn pst_130.017 er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen! pst_130.018 Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen, pst_130.019 man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe pst_130.020 es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von pst_130.021 dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der pst_130.022 Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten pst_130.023 Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er pst_130.024 sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern, pst_130.025 die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen: pst_130.026 «So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!» pst_130.027 In diesen Versen scheint sich jedoch ein älterer Mythos pst_130.028 erhalten zu haben, die Spur einer ungeheueren Welt,

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/134>, abgerufen am 04.05.2024.