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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Schmettert' er grade sie durch; und der Telamonier Aias pst_129.002
Zuckt' umsonst in der Hand den verstümmelten Schaft, pst_129.003
da geschleudert pst_129.004
Fern die Spitze von Erz mit Getön hinsank auf den pst_129.005
Boden. pst_129.006
Aias erkannte nunmehr, in erhabener Seel' aufschauernd, pst_129.007
pst_129.008
Göttergewalt, daß gänzlich des Kampfs Anschläge pst_129.009
vereitle pst_129.010
Der hochdonnernde Zeus und den Troern gönne den pst_129.011
Siegsruhm; pst_129.012
Und er entwich dem Geschoß. Da warfen sie brennendes pst_129.013
Feuer pst_129.014
Schnell in das Schiff, und plötzlich durchflog unlöschbar pst_129.015
umher Glut."

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Vollkommen entfaltet sich diese Kunst natürlich erst pst_129.017
in größerem Raum. Ein Meisterstück ist der Freiermord pst_129.018
in der Odyssee. Niemand ahnt, wie gefährlich ein pst_129.019
solches Thema ist, wie es ermüden könnte, wenn einer pst_129.020
nach dem andern erlegt wird. So steigert es sich, so fesselt pst_129.021
der Dichter durch Überbieten und durch Kontraste. pst_129.022
Denn auch der Kontrast will noch als vorzüglich episches pst_129.023
Kunstmittel gewürdigt sein. Er ist, wie das Überbieten, pst_129.024
nicht durch das Kommende, sondern von rückwärts pst_129.025
her, durch das eben Dargestellte bestimmt. Auch pst_129.026
als Künstler also blickt der Epiker mit Vorliebe zurück. pst_129.027
Das Ziel jedoch, dem eine Handlung als solche notwendig pst_129.028
zustreben muß, hat wenig Einfluß auf sein Verfahren, pst_129.029
sein Tempo und seine Anordnungen: Es ist mehr pst_129.030
nur ein Vorwand zum Schreiten, wie wenn sich jemand

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Schmettert' er grade sie durch; und der Telamonier Aias pst_129.002
Zuckt' umsonst in der Hand den verstümmelten Schaft, pst_129.003
da geschleudert pst_129.004
Fern die Spitze von Erz mit Getön hinsank auf den pst_129.005
Boden. pst_129.006
Aias erkannte nunmehr, in erhabener Seel' aufschauernd, pst_129.007
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Göttergewalt, daß gänzlich des Kampfs Anschläge pst_129.009
vereitle pst_129.010
Der hochdonnernde Zeus und den Troern gönne den pst_129.011
Siegsruhm; pst_129.012
Und er entwich dem Geschoß. Da warfen sie brennendes pst_129.013
Feuer pst_129.014
Schnell in das Schiff, und plötzlich durchflog unlöschbar pst_129.015
umher Glut.»

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  Vollkommen entfaltet sich diese Kunst natürlich erst pst_129.017
in größerem Raum. Ein Meisterstück ist der Freiermord pst_129.018
in der Odyssee. Niemand ahnt, wie gefährlich ein pst_129.019
solches Thema ist, wie es ermüden könnte, wenn einer pst_129.020
nach dem andern erlegt wird. So steigert es sich, so fesselt pst_129.021
der Dichter durch Überbieten und durch Kontraste. pst_129.022
Denn auch der Kontrast will noch als vorzüglich episches pst_129.023
Kunstmittel gewürdigt sein. Er ist, wie das Überbieten, pst_129.024
nicht durch das Kommende, sondern von rückwärts pst_129.025
her, durch das eben Dargestellte bestimmt. Auch pst_129.026
als Künstler also blickt der Epiker mit Vorliebe zurück. pst_129.027
Das Ziel jedoch, dem eine Handlung als solche notwendig pst_129.028
zustreben muß, hat wenig Einfluß auf sein Verfahren, pst_129.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/133>, abgerufen am 04.05.2024.