Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_124.001
Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen pst_124.002
scheint ihm als tertium comparationis durchaus pst_124.003
zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht pst_124.004
in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen pst_124.005
dem epischen Gang.

pst_124.006

Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen pst_124.007
Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum pst_124.008
das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe pst_124.009
im zweiten Gesang der "Ilias" bildet das Schwärmen pst_124.010
der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den pst_124.011
Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch, pst_124.012
der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen, pst_124.013
das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern pst_124.014
wächst sich selbständig aus zum Bild.

pst_124.015

Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen pst_124.016
der Episode. Episoden aber füllen die "Ilias" sowohl wie pst_124.017
die "Odyssee". Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es pst_124.018
eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast pst_124.019
beliebig vermehren oder vermindern. In der langen pst_124.020
Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich pst_124.021
geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf pst_124.022
wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der "Odyssee" pst_124.023
wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel, pst_124.024
an Umfang der "Ilias" angeglichen worden. pst_124.025
Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen pst_124.026
einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium. pst_124.027
Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich pst_124.028
zu dem Problem zu äußern.

pst_124.029

Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs "Prolegomena pst_124.030
ad Homerum" den Freunden Homers bereitet pst_124.031
haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang

pst_124.001
Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen pst_124.002
scheint ihm als tertium comparationis durchaus pst_124.003
zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht pst_124.004
in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen pst_124.005
dem epischen Gang.

pst_124.006

  Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen pst_124.007
Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum pst_124.008
das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe pst_124.009
im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen pst_124.010
der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den pst_124.011
Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch, pst_124.012
der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen, pst_124.013
das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern pst_124.014
wächst sich selbständig aus zum Bild.

pst_124.015

  Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen pst_124.016
der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie pst_124.017
die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es pst_124.018
eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast pst_124.019
beliebig vermehren oder vermindern. In der langen pst_124.020
Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich pst_124.021
geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf pst_124.022
wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee» pst_124.023
wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel, pst_124.024
an Umfang der «Ilias» angeglichen worden. pst_124.025
Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen pst_124.026
einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium. pst_124.027
Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich pst_124.028
zu dem Problem zu äußern.

pst_124.029

  Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena pst_124.030
ad Homerum» den Freunden Homers bereitet pst_124.031
haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0128" n="124"/><lb n="pst_124.001"/>
Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen <lb n="pst_124.002"/>
scheint ihm als tertium comparationis durchaus <lb n="pst_124.003"/>
zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht <lb n="pst_124.004"/>
in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen <lb n="pst_124.005"/>
dem epischen Gang.</p>
          <lb n="pst_124.006"/>
          <p>  Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen <lb n="pst_124.007"/>
Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum <lb n="pst_124.008"/>
das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe <lb n="pst_124.009"/>
im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen <lb n="pst_124.010"/>
der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den <lb n="pst_124.011"/>
Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch, <lb n="pst_124.012"/>
der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen, <lb n="pst_124.013"/>
das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern <lb n="pst_124.014"/>
wächst sich selbständig aus zum Bild.</p>
          <lb n="pst_124.015"/>
          <p>  Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen <lb n="pst_124.016"/>
der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie <lb n="pst_124.017"/>
die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es <lb n="pst_124.018"/>
eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast <lb n="pst_124.019"/>
beliebig vermehren oder vermindern. In der langen <lb n="pst_124.020"/>
Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich <lb n="pst_124.021"/>
geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf <lb n="pst_124.022"/>
wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee» <lb n="pst_124.023"/>
wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel, <lb n="pst_124.024"/>
an Umfang der «Ilias» angeglichen worden. <lb n="pst_124.025"/>
Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen <lb n="pst_124.026"/>
einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium. <lb n="pst_124.027"/>
Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich <lb n="pst_124.028"/>
zu dem Problem zu äußern.</p>
          <lb n="pst_124.029"/>
          <p>  Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena <lb n="pst_124.030"/>
ad Homerum» den Freunden Homers bereitet <lb n="pst_124.031"/>
haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0128] pst_124.001 Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen pst_124.002 scheint ihm als tertium comparationis durchaus pst_124.003 zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht pst_124.004 in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen pst_124.005 dem epischen Gang. pst_124.006   Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen pst_124.007 Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum pst_124.008 das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe pst_124.009 im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen pst_124.010 der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den pst_124.011 Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch, pst_124.012 der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen, pst_124.013 das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern pst_124.014 wächst sich selbständig aus zum Bild. pst_124.015   Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen pst_124.016 der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie pst_124.017 die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es pst_124.018 eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast pst_124.019 beliebig vermehren oder vermindern. In der langen pst_124.020 Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich pst_124.021 geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf pst_124.022 wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee» pst_124.023 wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel, pst_124.024 an Umfang der «Ilias» angeglichen worden. pst_124.025 Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen pst_124.026 einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium. pst_124.027 Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich pst_124.028 zu dem Problem zu äußern. pst_124.029   Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena pst_124.030 ad Homerum» den Freunden Homers bereitet pst_124.031 haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/128
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/128>, abgerufen am 22.11.2024.