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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Dort nun schritt ihm die milde, gütige Mutter entgegen, pst_122.002
Die gerad zu Laodike ging, der schönsten der Töchter."

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In neuzeitlicher Dichtung läßt sich dergleichen höchstens pst_122.005
als bewußt archaische Manier rechtfertigen. Bei pst_122.006
Homer ist es ganz natürlich, offenbar deshalb, weil er pst_122.007
die Unterordnung des Nebensatzes bei weitem nicht so pst_122.008
deutlich empfindet wie wir. So hat auch das Relativpronomen pst_122.009
bei ihm noch demonstrative Bedeutung und pst_122.010
leitet einen Hauptsatz ein. Er sagt also nicht: ,Ich habe pst_122.011
das Haus gesehen, das an der Straße steht ', sondern: pst_122.012
,Ich habe das Haus gesehen, das steht an der Straße '. pst_122.013
Und bis ins Kleinste setzt sich das fort. Wir pflegen zu pst_122.014
sagen, daß eine Präposition einen Kasus regiere. Bei pst_122.015
Homer jedoch bewahren die Kasus noch einige Selbständigkeit. pst_122.016
Der Genetiv von ,Haus ' kann ,aus dem pst_122.017
Haus ' bedeuten, der Dativ ,im Haus '. Die Präpositionen pst_122.018
wiederum werden noch adverbial verwendet, ,vor ' pst_122.019
also in der Bedeutung von ,davor ', ,in ' in der Bedeutung pst_122.020
,darin '. Sie können deshalb vor oder hinter dem pst_122.021
zu bestimmenden Wort stehen. Dann regiert nicht eine pst_122.022
Präposition einen Kasus, sondern eine Postposition tritt pst_122.023
zu einem Kasus erläuternd hinzu.

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Weitere Beispiele würden immer nur dasselbe zeigen: pst_122.025
daß der Sinn für grammatische Bezüge noch wenig pst_122.026
ausgebildet ist, daß kleinste Satzteile sogar, die später pst_122.027
rein funktionale Bedeutung gewinnen, noch ziemlich pst_122.028
fest in sich selber bestehen. Dies aber ist nur der grammatische pst_122.029
Niederschlag des von Schiller erkannten Gesetzes.

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Dort nun schritt ihm die milde, gütige Mutter entgegen, pst_122.002
Die gerad zu Laodike ging, der schönsten der Töchter.»

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(242–252)

pst_122.004

  In neuzeitlicher Dichtung läßt sich dergleichen höchstens pst_122.005
als bewußt archaische Manier rechtfertigen. Bei pst_122.006
Homer ist es ganz natürlich, offenbar deshalb, weil er pst_122.007
die Unterordnung des Nebensatzes bei weitem nicht so pst_122.008
deutlich empfindet wie wir. So hat auch das Relativpronomen pst_122.009
bei ihm noch demonstrative Bedeutung und pst_122.010
leitet einen Hauptsatz ein. Er sagt also nicht: ‚Ich habe pst_122.011
das Haus gesehen, das an der Straße steht ‘, sondern: pst_122.012
‚Ich habe das Haus gesehen, das steht an der Straße ‘. pst_122.013
Und bis ins Kleinste setzt sich das fort. Wir pflegen zu pst_122.014
sagen, daß eine Präposition einen Kasus regiere. Bei pst_122.015
Homer jedoch bewahren die Kasus noch einige Selbständigkeit. pst_122.016
Der Genetiv von ‚Haus ‘ kann ‚aus dem pst_122.017
Haus ‘ bedeuten, der Dativ ‚im Haus ‘. Die Präpositionen pst_122.018
wiederum werden noch adverbial verwendet, ‚vor ‘ pst_122.019
also in der Bedeutung von ‚davor ‘, ‚in ‘ in der Bedeutung pst_122.020
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Präposition einen Kasus, sondern eine Postposition tritt pst_122.023
zu einem Kasus erläuternd hinzu.

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  Weitere Beispiele würden immer nur dasselbe zeigen: pst_122.025
daß der Sinn für grammatische Bezüge noch wenig pst_122.026
ausgebildet ist, daß kleinste Satzteile sogar, die später pst_122.027
rein funktionale Bedeutung gewinnen, noch ziemlich pst_122.028
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Niederschlag des von Schiller erkannten Gesetzes.

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/126>, abgerufen am 04.05.2024.