Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_116.001
und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher pst_116.002
aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern pst_116.003
weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren."

pst_116.004
pst_116.005

Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den pst_116.006
nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen pst_116.007
oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes pst_116.008
nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der "Vater pst_116.009
der Geschichtsschreibung". Sein Thema sind die pst_116.010
Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet pst_116.011
aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten, pst_116.012
Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und pst_116.013
Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig pst_116.014
wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein pst_116.015
Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt pst_116.016
nicht zurecht1.

pst_116.017

Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen pst_116.018
soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu pst_116.019
mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben. pst_116.020
Die "Ilias" schließt mit Hektors Bestattung. Ein pst_116.021
solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der pst_116.022
Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen. pst_116.023
Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind pst_116.024
auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen pst_116.025
hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt, pst_116.026
daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als pst_116.027
Abschluß empfindet. Die "Ilias", so will ihn bedünken, pst_116.028
schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich, pst_116.029
im Sinne von Goethes "Achilleis" weiterzufahren.

1 pst_116.030
Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, pst_116.031
München 1945.

pst_116.001
und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher pst_116.002
aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern pst_116.003
weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.»

pst_116.004
pst_116.005

  Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den pst_116.006
nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen pst_116.007
oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes pst_116.008
nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater pst_116.009
der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die pst_116.010
Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet pst_116.011
aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten, pst_116.012
Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und pst_116.013
Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig pst_116.014
wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein pst_116.015
Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt pst_116.016
nicht zurecht1.

pst_116.017

  Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen pst_116.018
soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu pst_116.019
mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben. pst_116.020
Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein pst_116.021
solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der pst_116.022
Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen. pst_116.023
Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind pst_116.024
auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen pst_116.025
hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt, pst_116.026
daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als pst_116.027
Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken, pst_116.028
schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich, pst_116.029
im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren.

1 pst_116.030
Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, pst_116.031
München 1945.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0120" n="116"/><lb n="pst_116.001"/>
und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher <lb n="pst_116.002"/>
aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern <lb n="pst_116.003"/>
weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.»</p>
          <lb n="pst_116.004"/>
          <lb n="pst_116.005"/>
          <p>  Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den <lb n="pst_116.006"/>
nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen <lb n="pst_116.007"/>
oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes <lb n="pst_116.008"/>
nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater <lb n="pst_116.009"/>
der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die <lb n="pst_116.010"/>
Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet <lb n="pst_116.011"/>
aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten, <lb n="pst_116.012"/>
Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und <lb n="pst_116.013"/>
Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig <lb n="pst_116.014"/>
wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein <lb n="pst_116.015"/>
Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt <lb n="pst_116.016"/>
nicht zurecht<note xml:id="PST_116_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_116.030"/>
Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, <lb n="pst_116.031"/>
München 1945.</note>.</p>
          <lb n="pst_116.017"/>
          <p>  Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen <lb n="pst_116.018"/>
soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu <lb n="pst_116.019"/>
mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben. <lb n="pst_116.020"/>
Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein <lb n="pst_116.021"/>
solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der <lb n="pst_116.022"/>
Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen. <lb n="pst_116.023"/>
Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind <lb n="pst_116.024"/>
auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen <lb n="pst_116.025"/>
hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt, <lb n="pst_116.026"/>
daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als <lb n="pst_116.027"/>
Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken, <lb n="pst_116.028"/>
schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich, <lb n="pst_116.029"/>
im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren.
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0120] pst_116.001 und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher pst_116.002 aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern pst_116.003 weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.» pst_116.004 pst_116.005   Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den pst_116.006 nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen pst_116.007 oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes pst_116.008 nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater pst_116.009 der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die pst_116.010 Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet pst_116.011 aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten, pst_116.012 Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und pst_116.013 Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig pst_116.014 wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein pst_116.015 Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt pst_116.016 nicht zurecht 1. pst_116.017   Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen pst_116.018 soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu pst_116.019 mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben. pst_116.020 Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein pst_116.021 solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der pst_116.022 Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen. pst_116.023 Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind pst_116.024 auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen pst_116.025 hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt, pst_116.026 daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als pst_116.027 Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken, pst_116.028 schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich, pst_116.029 im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren. 1 pst_116.030 Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, pst_116.031 München 1945.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/120
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/120>, abgerufen am 04.05.2024.