pst_117.001 Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002 Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die pst_117.003 Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht pst_117.004 der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der pst_117.005 Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als pst_117.006 irgendein Ziel. Das heißt: die "Ilias" ist im Ganzen und pst_117.007 Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die "Odyssee". pst_117.008 Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden pst_117.009 über die Freier den lang erwarteten Schluß, von pst_117.010 dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade pst_117.011 deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, pst_117.012 tut der Dichter das Möglichste, die Spannung pst_117.013 dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen pst_117.014 die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu pst_117.015 lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so pst_117.016 wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches pst_117.017 mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch pst_117.018 oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. pst_117.019 Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, pst_117.020 lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht pst_117.021 verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer pst_117.022 ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles pst_117.023 mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, pst_117.024 die Wunder der fremden Länder und Meere, pst_117.025 der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.
pst_117.026
In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027 das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028 spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029 den Worten aus:
pst_117.030
"Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem pst_117.031 Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig
pst_117.001 Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002 Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die pst_117.003 Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht pst_117.004 der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der pst_117.005 Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als pst_117.006 irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und pst_117.007 Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee». pst_117.008 Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden pst_117.009 über die Freier den lang erwarteten Schluß, von pst_117.010 dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade pst_117.011 deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, pst_117.012 tut der Dichter das Möglichste, die Spannung pst_117.013 dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen pst_117.014 die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu pst_117.015 lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so pst_117.016 wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches pst_117.017 mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch pst_117.018 oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. pst_117.019 Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, pst_117.020 lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht pst_117.021 verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer pst_117.022 ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles pst_117.023 mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, pst_117.024 die Wunder der fremden Länder und Meere, pst_117.025 der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.
pst_117.026
In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027 das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028 spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029 den Worten aus:
pst_117.030
«Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem pst_117.031 Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0121"n="117"/><lbn="pst_117.001"/>
Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage <lbn="pst_117.002"/>
Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die <lbn="pst_117.003"/>
Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht <lbn="pst_117.004"/>
der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der <lbn="pst_117.005"/>
Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als <lbn="pst_117.006"/>
irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und <lbn="pst_117.007"/>
Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee». <lbn="pst_117.008"/>
Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden <lbn="pst_117.009"/>
über die Freier den lang erwarteten Schluß, von <lbn="pst_117.010"/>
dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade <lbn="pst_117.011"/>
deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, <lbn="pst_117.012"/>
tut der Dichter das Möglichste, die Spannung <lbn="pst_117.013"/>
dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen <lbn="pst_117.014"/>
die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu <lbn="pst_117.015"/>
lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so <lbn="pst_117.016"/>
wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches <lbn="pst_117.017"/>
mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch <lbn="pst_117.018"/>
oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. <lbn="pst_117.019"/>
Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, <lbn="pst_117.020"/>
lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht <lbn="pst_117.021"/>
verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer <lbn="pst_117.022"/>
ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles <lbn="pst_117.023"/>
mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, <lbn="pst_117.024"/>
die Wunder der fremden Länder und Meere, <lbn="pst_117.025"/>
der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.</p><lbn="pst_117.026"/><p> In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über <lbn="pst_117.027"/>
das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse <lbn="pst_117.028"/>
spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit <lbn="pst_117.029"/>
den Worten aus:</p><lbn="pst_117.030"/><p> «Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem <lbn="pst_117.031"/>
Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig
</p></div></div></body></text></TEI>
[117/0121]
pst_117.001
Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage pst_117.002
Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die pst_117.003
Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht pst_117.004
der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der pst_117.005
Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als pst_117.006
irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und pst_117.007
Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee». pst_117.008
Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden pst_117.009
über die Freier den lang erwarteten Schluß, von pst_117.010
dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade pst_117.011
deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft, pst_117.012
tut der Dichter das Möglichste, die Spannung pst_117.013
dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen pst_117.014
die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu pst_117.015
lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so pst_117.016
wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches pst_117.017
mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch pst_117.018
oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse. pst_117.019
Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen, pst_117.020
lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht pst_117.021
verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer pst_117.022
ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles pst_117.023
mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren, pst_117.024
die Wunder der fremden Länder und Meere, pst_117.025
der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.
pst_117.026
In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über pst_117.027
das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse pst_117.028
spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit pst_117.029
den Worten aus:
pst_117.030
«Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem pst_117.031
Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/121>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.