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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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"Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia pst_111.002
Teil vor Teil zeiget ... sondern weil er es mit der pst_111.003
wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht pst_111.004
so leicht zu erwecken ist, glauben wir ebendes Anblickes pst_111.005
zu genießen, den er genoß." (XXI. Abschnitt.)


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Der Leser setzt hier nicht die Teile zu einem plastischen pst_111.007
Körper zusammen, sondern er macht die Steigerung pst_111.008
der Wollust mit, die den Dichter beim Anblick pst_111.009
von Corinnas1 Schönheit erregt. Dasselbe wäre von der pst_111.010
Beschreibung Alcinas bei Ariost zu sagen, die Lessing pst_111.011
wohl zu Unrecht tadelt. Es kommt auch da nicht auf die pst_111.012
Vorstellung aller einzelnen Teile an. Das Porträt ist wie pst_111.013
in Duft getaucht, und dieser Duft bezaubert und trägt pst_111.014
uns als Stimmung von Stanze zu Stanze dahin.

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Nur also dann, wenn das Gegenüber sich reinlich bildet pst_111.016
und der Dichter, im genauesten Sinne des Wortes, pst_111.017
Gegenständliches zeigen will, besteht die Frage Lessings pst_111.018
zu Recht. Ist sie aber gelöst, wenn dem bildenden Künstler pst_111.019
Körper, dem Dichter dagegen Handlungen zugewiesen pst_111.020
werden? Was Lessing unter Handlung versteht, pst_111.021
erörtert ein Laokoonfragment aus dem Nachlaß:

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"Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck pst_111.023
abzielen, heißt eine Handlung2."

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Das ist jedoch eher die Bewegung der dramatischen pst_111.025
Poesie. Im dramatischen Kunstwerk sind wir von Anfang pst_111.026
an auf das Ende gespannt (vergleiche Seite 171), pst_111.027
und jeder Teil stimmt mit den übrigen, wie Lessing an

1 pst_111.028
Lessing sagt fälschlich Lesbia; er verwechselt die Geliebte Ovids pst_111.029
mit derjenigen Catulls.
2 pst_111.030
Hugo Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. 1880, S. 444.
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  «Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia pst_111.002
Teil vor Teil zeiget ... sondern weil er es mit der pst_111.003
wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht pst_111.004
so leicht zu erwecken ist, glauben wir ebendes Anblickes pst_111.005
zu genießen, den er genoß.» (XXI. Abschnitt.)


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  Der Leser setzt hier nicht die Teile zu einem plastischen pst_111.007
Körper zusammen, sondern er macht die Steigerung pst_111.008
der Wollust mit, die den Dichter beim Anblick pst_111.009
von Corinnas1 Schönheit erregt. Dasselbe wäre von der pst_111.010
Beschreibung Alcinas bei Ariost zu sagen, die Lessing pst_111.011
wohl zu Unrecht tadelt. Es kommt auch da nicht auf die pst_111.012
Vorstellung aller einzelnen Teile an. Das Porträt ist wie pst_111.013
in Duft getaucht, und dieser Duft bezaubert und trägt pst_111.014
uns als Stimmung von Stanze zu Stanze dahin.

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  Nur also dann, wenn das Gegenüber sich reinlich bildet pst_111.016
und der Dichter, im genauesten Sinne des Wortes, pst_111.017
Gegenständliches zeigen will, besteht die Frage Lessings pst_111.018
zu Recht. Ist sie aber gelöst, wenn dem bildenden Künstler pst_111.019
Körper, dem Dichter dagegen Handlungen zugewiesen pst_111.020
werden? Was Lessing unter Handlung versteht, pst_111.021
erörtert ein Laokoonfragment aus dem Nachlaß:

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  «Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck pst_111.023
abzielen, heißt eine Handlung2

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  Das ist jedoch eher die Bewegung der dramatischen pst_111.025
Poesie. Im dramatischen Kunstwerk sind wir von Anfang pst_111.026
an auf das Ende gespannt (vergleiche Seite 171), pst_111.027
und jeder Teil stimmt mit den übrigen, wie Lessing an

1 pst_111.028
Lessing sagt fälschlich Lesbia; er verwechselt die Geliebte Ovids pst_111.029
mit derjenigen Catulls.
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/115>, abgerufen am 09.11.2024.