Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_107.001
entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren pst_107.002
und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon pst_107.003
auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender pst_107.004
Sühne bereit erklärt:

pst_107.005

"Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel pst_107.006
Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde pst_107.007
Becken; pst_107.008
Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des pst_107.009
Wettlaufs ... pst_107.010
Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der pst_107.011
Arbeit, pst_107.012
Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert, pst_107.013
Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter besiegten. pst_107.014
pst_107.015
Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet, pst_107.016
Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör pst_107.017
ich's, pst_107.018
Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet, pst_107.019
Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe pst_107.020
sich nahet."
   (122-134)

pst_107.021

Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie pst_107.022
schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten pst_107.023
Daseins auflöst. Eros, der "Unbesiegte im pst_107.024
Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau", pst_107.025
ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt pst_107.026
noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der pst_107.027
Sappho und Phaidra im "Hippolytos" des Euripides künden. pst_107.028
Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber pst_107.029
oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über pst_107.030
den Nausikaaszenen dagegen in der "Odyssee" liegt

pst_107.001
entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren pst_107.002
und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon pst_107.003
auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender pst_107.004
Sühne bereit erklärt:

pst_107.005

«Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel pst_107.006
Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde pst_107.007
Becken; pst_107.008
Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des pst_107.009
Wettlaufs ... pst_107.010
Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der pst_107.011
Arbeit, pst_107.012
Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert, pst_107.013
Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter besiegten. pst_107.014
pst_107.015
Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet, pst_107.016
Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör pst_107.017
ich's, pst_107.018
Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet, pst_107.019
Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe pst_107.020
sich nahet.»
   (122–134)

pst_107.021

  Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie pst_107.022
schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten pst_107.023
Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im pst_107.024
Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau», pst_107.025
ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt pst_107.026
noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der pst_107.027
Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden. pst_107.028
Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber pst_107.029
oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über pst_107.030
den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0111" n="107"/><lb n="pst_107.001"/>
entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren <lb n="pst_107.002"/>
und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon <lb n="pst_107.003"/>
auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender <lb n="pst_107.004"/>
Sühne bereit erklärt:</p>
          <p><lb n="pst_107.005"/><lg><l>«Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel</l><lb n="pst_107.006"/><l>Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde</l><lb n="pst_107.007"/><l><hi rendition="#et">Becken;</hi></l><lb n="pst_107.008"/><l>Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des</l><lb n="pst_107.009"/><l><hi rendition="#et">Wettlaufs ...</hi></l><lb n="pst_107.010"/><l>Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der</l><lb n="pst_107.011"/><l><hi rendition="#et">Arbeit,</hi></l><lb n="pst_107.012"/><l>Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert,</l><lb n="pst_107.013"/><l>Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter be<hi rendition="#et">siegten.</hi></l><lb n="pst_107.014"/><lb n="pst_107.015"/><l>Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet,</l><lb n="pst_107.016"/><l>Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör</l><lb n="pst_107.017"/><l><hi rendition="#et">ich's,</hi></l><lb n="pst_107.018"/><l>Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet,</l><lb n="pst_107.019"/><l>Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe</l><lb n="pst_107.020"/><l><hi rendition="#et">sich nahet.»</hi></l></lg><space dim="horizontal"/>(122&#x2013;134)</p>
          <lb n="pst_107.021"/>
          <p>  Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie <lb n="pst_107.022"/>
schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten <lb n="pst_107.023"/>
Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im <lb n="pst_107.024"/>
Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau», <lb n="pst_107.025"/>
ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt <lb n="pst_107.026"/>
noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der <lb n="pst_107.027"/>
Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden. <lb n="pst_107.028"/>
Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber <lb n="pst_107.029"/>
oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über <lb n="pst_107.030"/>
den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0111] pst_107.001 entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren pst_107.002 und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon pst_107.003 auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender pst_107.004 Sühne bereit erklärt: pst_107.005 «Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel pst_107.006 Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde pst_107.007 Becken; pst_107.008 Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des pst_107.009 Wettlaufs ... pst_107.010 Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der pst_107.011 Arbeit, pst_107.012 Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert, pst_107.013 Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter besiegten. pst_107.014 pst_107.015 Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet, pst_107.016 Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör pst_107.017 ich's, pst_107.018 Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet, pst_107.019 Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe pst_107.020 sich nahet.» (122–134) pst_107.021   Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie pst_107.022 schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten pst_107.023 Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im pst_107.024 Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau», pst_107.025 ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt pst_107.026 noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der pst_107.027 Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden. pst_107.028 Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber pst_107.029 oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über pst_107.030 den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/111
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/111>, abgerufen am 24.11.2024.