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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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nicht. Im Gegenteil! Es sinkt ins Nächtige als in Tiefen pst_106.002
der Innigkeit hinein und fühlt sich umflutet, geborgen. pst_106.003
Zwar wäre es irreführend, zu sagen, zum Lyrischen gehöre pst_106.004
mehr die Nacht, zum Epischen der Tag. Denn pst_106.005
möglich ist auch ein lyrisches Licht. Das ist aber eher ein pst_106.006
Flimmern und Gleißen, stellt kein Gegenüber her und pst_106.007
läßt sich darum mit dem Dunkel vertauschen, das pst_106.008
gleichfalls nicht auseinandersetzt. Den epischen Menschen pst_106.009
dagegen beraubt das Dunkel seiner Wesentlichkeit. pst_106.010
Er sieht nichts mehr, und da sein Dasein im pst_106.011
Sehen begründet ist, "ist" er nicht mehr. Die Götter pst_106.012
verlassen den Sterbenden. Er sinkt ins me on, ins Nichtige, pst_106.013
wofür die Schatten des Hades das halbverlegene pst_106.014
Gleichnis eines Dichters sind, der selbst das Unsichtbare pst_106.015
noch irgendwie sichtbar machen muß. Die Hadesfahrt pst_106.016
ist das ungeheuerste Wagnis des göttlichen Dulders pst_106.017
Odysseus. Die Linie, die hier der Held überschreitet, pst_106.018
ist eine schärfere Grenze der Welt als die Säulen des pst_106.019
Herkules, die das Schiff des Danteschen Ulyß passiert.

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der freilich für den lyrischen Menschen nahe mit der pst_106.022
Nacht und dem Tode verwandt ist, die Liebe. Homer pst_106.023
kennt wohl die Gattentreue und hat ihr in Andromache pst_106.024
und Penelope ein Denkmal gesetzt. Er kennt auch die pst_106.025
Lust am Besitz der Frau. Der troianische Krieg entbrennt pst_106.026
um Helenas, der Zorn des Achill um Briseis' pst_106.027
willen. Aber von Liebesglück und Liebessehnsucht findet pst_106.028
sich keine Spur. Briseis ist wie ein Becher Wein; der pst_106.029
Durstige trinkt und wendet sich wieder den kriegerischen pst_106.030
Geschäften zu. Achilleus wäre nicht minder erbost, pst_106.031
wenn Agamemnon ihm eine Waffe oder ein Kleinod

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nicht. Im Gegenteil! Es sinkt ins Nächtige als in Tiefen pst_106.002
der Innigkeit hinein und fühlt sich umflutet, geborgen. pst_106.003
Zwar wäre es irreführend, zu sagen, zum Lyrischen gehöre pst_106.004
mehr die Nacht, zum Epischen der Tag. Denn pst_106.005
möglich ist auch ein lyrisches Licht. Das ist aber eher ein pst_106.006
Flimmern und Gleißen, stellt kein Gegenüber her und pst_106.007
läßt sich darum mit dem Dunkel vertauschen, das pst_106.008
gleichfalls nicht auseinandersetzt. Den epischen Menschen pst_106.009
dagegen beraubt das Dunkel seiner Wesentlichkeit. pst_106.010
Er sieht nichts mehr, und da sein Dasein im pst_106.011
Sehen begründet ist, «ist» er nicht mehr. Die Götter pst_106.012
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wofür die Schatten des Hades das halbverlegene pst_106.014
Gleichnis eines Dichters sind, der selbst das Unsichtbare pst_106.015
noch irgendwie sichtbar machen muß. Die Hadesfahrt pst_106.016
ist das ungeheuerste Wagnis des göttlichen Dulders pst_106.017
Odysseus. Die Linie, die hier der Held überschreitet, pst_106.018
ist eine schärfere Grenze der Welt als die Säulen des pst_106.019
Herkules, die das Schiff des Danteschen Ulyß passiert.

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der freilich für den lyrischen Menschen nahe mit der pst_106.022
Nacht und dem Tode verwandt ist, die Liebe. Homer pst_106.023
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um Helenas, der Zorn des Achill um Briseis' pst_106.027
willen. Aber von Liebesglück und Liebessehnsucht findet pst_106.028
sich keine Spur. Briseis ist wie ein Becher Wein; der pst_106.029
Durstige trinkt und wendet sich wieder den kriegerischen pst_106.030
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/110>, abgerufen am 09.11.2024.