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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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und Musik (Seite 16). In lyrisch-musikalischer pst_100.002
Sprache klingt eine Stimmung auf. Epische Lautmalerei pst_100.003
will etwas mit sprachlichen Mitteln verdeutlichen. pst_100.004
Auf ein Verdeutlichen, Zeigen, Anschaulich-machen pst_100.005
kommt es hier überall an. Spitteler nennt es das "königliche pst_100.006
Vorrecht" des epischen Dichters, "alles in lebendiges pst_100.007
Geschehen zu verwandeln"1 und so den Augen pst_100.008
darzustellen. Auch Seelenzustände, erklärt er, setze der pst_100.009
Dichter in Erscheinungen um. Er selber hat dies ausgiebig pst_100.010
getan. Wir kennen die Tiere des Prometheus, den pst_100.011
Löwen und die Hündlein des Herzens, die er erwürgt, pst_100.012
oder aus dem "Olympischen Frühling" den Willen des pst_100.013
Zeus, der, eine Kugel, dem Ziel entgegengeschleudert pst_100.014
wird und die gläsernen Willen der andern zerschmettert. pst_100.015
Sogar in Prosa will Spitteler nicht auf dieses epische pst_100.016
Vorrecht verzichten. In "Imago" findet sich folgende pst_100.017
Schilderung der eigenen Seele:

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"Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein pst_100.019
übriges und unternahm einen Rundgang durch die pst_100.020
Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die pst_100.021
Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen pst_100.022
und Weisheit austeilend. Das edle Getier pst_100.023
faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von pst_100.024
künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz pst_100.025
zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher pst_100.026
Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden. pst_100.027
Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten, pst_100.028
sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch pst_100.029
weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur

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Vgl. dazu: Lachende Wahrheiten, Zürich 1945, S. 232 ff.

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Sprache klingt eine Stimmung auf. Epische Lautmalerei pst_100.003
will etwas mit sprachlichen Mitteln verdeutlichen. pst_100.004
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kommt es hier überall an. Spitteler nennt es das «königliche pst_100.006
Vorrecht» des epischen Dichters, «alles in lebendiges pst_100.007
Geschehen zu verwandeln»1 und so den Augen pst_100.008
darzustellen. Auch Seelenzustände, erklärt er, setze der pst_100.009
Dichter in Erscheinungen um. Er selber hat dies ausgiebig pst_100.010
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Löwen und die Hündlein des Herzens, die er erwürgt, pst_100.012
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wird und die gläsernen Willen der andern zerschmettert. pst_100.015
Sogar in Prosa will Spitteler nicht auf dieses epische pst_100.016
Vorrecht verzichten. In «Imago» findet sich folgende pst_100.017
Schilderung der eigenen Seele:

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  «Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein pst_100.019
übriges und unternahm einen Rundgang durch die pst_100.020
Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die pst_100.021
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Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden. pst_100.027
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/104>, abgerufen am 04.05.2024.