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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem
Korb herbei und legte Beide in die Hand des Gro߬
vaters.

"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle
neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und
las ihn durch; ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann
das Blatt in die Tasche.

"Meinst, du könnest auch noch Milch trinken mit mir,
Heidi?" fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand
nahm, um in die Hütte einzutreten. "Aber nimm dort
dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus
kaufen und Kleider für ein paar Jahre."

"Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater", versicherte
Heidi; "ein Bett hab' ich schon, und Kleider hat mir
Klara so viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere
brauche."

"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's
schon einmal brauchen können."

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in
die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen
in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf -- aber da
stand es plötzlich still und rief in Betroffenheit von oben
herunter: "O Großvater, ich habe kein Bett mehr!"

"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf,
"wußte ja nicht, daß du wieder heimkommst, jetzt komm'
zur Milch!"

Boden und holte ſeinen Brief und ſeine Rolle aus dem
Korb herbei und legte Beide in die Hand des Gro߬
vaters.

„Das gehört dir“, ſagte dieſer und legte die Rolle
neben ſich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und
las ihn durch; ohne ein Wort zu ſagen, ſteckte er dann
das Blatt in die Taſche.

„Meinſt, du könneſt auch noch Milch trinken mit mir,
Heidi?“ fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand
nahm, um in die Hütte einzutreten. „Aber nimm dort
dein Geld mit dir, da kannſt du ein ganzes Bett daraus
kaufen und Kleider für ein paar Jahre.“

„Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater“, verſicherte
Heidi; „ein Bett hab' ich ſchon, und Kleider hat mir
Klara ſo viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere
brauche.“

„Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirſt's
ſchon einmal brauchen können.“

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in
die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiederſehen
in alle Winkel ſprang und die Leiter hinauf — aber da
ſtand es plötzlich ſtill und rief in Betroffenheit von oben
herunter: „O Großvater, ich habe kein Bett mehr!“

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„wußte ja nicht, daß du wieder heimkommſt, jetzt komm'
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[215/0225] Boden und holte ſeinen Brief und ſeine Rolle aus dem Korb herbei und legte Beide in die Hand des Gro߬ vaters. „Das gehört dir“, ſagte dieſer und legte die Rolle neben ſich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch; ohne ein Wort zu ſagen, ſteckte er dann das Blatt in die Taſche. „Meinſt, du könneſt auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?“ fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. „Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannſt du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.“ „Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater“, verſicherte Heidi; „ein Bett hab' ich ſchon, und Kleider hat mir Klara ſo viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere brauche.“ „Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirſt's ſchon einmal brauchen können.“ Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiederſehen in alle Winkel ſprang und die Leiter hinauf — aber da ſtand es plötzlich ſtill und rief in Betroffenheit von oben herunter: „O Großvater, ich habe kein Bett mehr!“ „Kommt ſchon wieder“, tönte es von unten herauf, „wußte ja nicht, daß du wieder heimkommſt, jetzt komm' zur Milch!“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/225>, abgerufen am 23.11.2024.