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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Se¬
bastian, ist auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht
gestorben?"

"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen,
wird schon noch am Leben sein."

Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück, nur hie
und da guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle
die Brödchen der Großmutter auf den Tisch zu legen, war
sein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit sagte es wieder:
"Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen könnte,
daß die Großmutter noch am Leben ist."

"Ja wohl! Ja wohl!" entgegnete der Begleiter halb
schlafend; "wird schon noch leben, wüßte auch gar nicht,
warum nicht."

Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen
zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem
frühen Aufstehen war es so schlafbedürftig, daß es erst
wieder erwachte, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte
und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen,
in Basel angekommen!"

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden
lang. Heidi saß wieder mit seinem Korb auf dem Schooß,
den es um keinen Preis dem Sebastian übergeben wollte;
aber heute sagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde
mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der

Gedanken auf, und auf einmal ſagte es ängſtlich: „Se¬
baſtian, iſt auch ſicher die Großmutter auf der Alm nicht
geſtorben?“

„Nein, nein“, beruhigte dieſer, „wollen's nicht hoffen,
wird ſchon noch am Leben ſein.“

Dann fiel Heidi wieder in ſein Sinnen zurück, nur hie
und da guckte es einmal in ſeinen Korb hinein, denn alle
die Brödchen der Großmutter auf den Tiſch zu legen, war
ſein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit ſagte es wieder:
„Sebaſtian, wenn man nur auch ganz ſicher wiſſen könnte,
daß die Großmutter noch am Leben iſt.“

„Ja wohl! Ja wohl!“ entgegnete der Begleiter halb
ſchlafend; „wird ſchon noch leben, wüßte auch gar nicht,
warum nicht.“

Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen
zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem
frühen Aufſtehen war es ſo ſchlafbedürftig, daß es erſt
wieder erwachte, als Sebaſtian es tüchtig am Arm ſchüttelte
und ihm zurief: „Erwachen! Erwachen! Gleich ausſteigen,
in Baſel angekommen!“

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden
lang. Heidi ſaß wieder mit ſeinem Korb auf dem Schooß,
den es um keinen Preis dem Sebaſtian übergeben wollte;
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[203/0213] Gedanken auf, und auf einmal ſagte es ängſtlich: „Se¬ baſtian, iſt auch ſicher die Großmutter auf der Alm nicht geſtorben?“ „Nein, nein“, beruhigte dieſer, „wollen's nicht hoffen, wird ſchon noch am Leben ſein.“ Dann fiel Heidi wieder in ſein Sinnen zurück, nur hie und da guckte es einmal in ſeinen Korb hinein, denn alle die Brödchen der Großmutter auf den Tiſch zu legen, war ſein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit ſagte es wieder: „Sebaſtian, wenn man nur auch ganz ſicher wiſſen könnte, daß die Großmutter noch am Leben iſt.“ „Ja wohl! Ja wohl!“ entgegnete der Begleiter halb ſchlafend; „wird ſchon noch leben, wüßte auch gar nicht, warum nicht.“ Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufſtehen war es ſo ſchlafbedürftig, daß es erſt wieder erwachte, als Sebaſtian es tüchtig am Arm ſchüttelte und ihm zurief: „Erwachen! Erwachen! Gleich ausſteigen, in Baſel angekommen!“ Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi ſaß wieder mit ſeinem Korb auf dem Schooß, den es um keinen Preis dem Sebaſtian übergeben wollte; aber heute ſagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung geſpannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/213>, abgerufen am 27.04.2024.