Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

"Nichts fehlt dir, gar Nichts, du bist ein ganz unglaublich
undankbares Ding, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht,
was du noch Alles anstellen willst!"

Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm
war, und brach hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn
ich so lang nicht komme, so muß das Schneehöppli immer
klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Distel¬
fink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käse
bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
gute Nacht sagt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel
in Frankfurt oben über fliegen würde, so würde er noch
viel lauter krächzen, daß so viele Menschen bei einander
sitzen und einander bös machen und nicht auf den Felsen
gehen, wo es Einem wohl ist."

"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!" rief
Fräulein Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die
Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian
rannte, der eben hinunter wollte. "Holen Sie auf der
Stelle das unglückliche Wesen herauf", rief sie ihm zu,
indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart ange¬
stoßen.

"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück
und rieb sich den seinen, denn er war noch harter ange¬
fahren.

Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben
Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

„Nichts fehlt dir, gar Nichts, du biſt ein ganz unglaublich
undankbares Ding, und vor lauter Wohlſein weißt du nicht,
was du noch Alles anſtellen willſt!“

Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm
war, und brach hervor: „Ich will ja nur heim, und wenn
ich ſo lang nicht komme, ſo muß das Schneehöppli immer
klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Diſtel¬
fink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käſe
bekommt, und hier kann man gar nie ſehen, wie die Sonne
gute Nacht ſagt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel
in Frankfurt oben über fliegen würde, ſo würde er noch
viel lauter krächzen, daß ſo viele Menſchen bei einander
ſitzen und einander bös machen und nicht auf den Felſen
gehen, wo es Einem wohl iſt.“

„Barmherzigkeit, das Kind iſt übergeſchnappt!“ rief
Fräulein Rottenmeier aus und ſtürzte mit Schrecken die
Treppe hinauf, wo ſie ſehr unſanft gegen den Sebaſtian
rannte, der eben hinunter wollte. „Holen Sie auf der
Stelle das unglückliche Weſen herauf“, rief ſie ihm zu,
indem ſie ſich den Kopf rieb, denn ſie war hart ange¬
ſtoßen.

„Ja, ja, ſchon recht, danke ſchön“, gab Sebaſtian zurück
und rieb ſich den ſeinen, denn er war noch harter ange¬
fahren.

Heidi ſtand mit flammenden Augen noch auf derſelben
Stelle feſt und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="134"/>
&#x201E;Nichts fehlt dir, gar Nichts, du bi&#x017F;t ein ganz unglaublich<lb/>
undankbares Ding, und vor lauter Wohl&#x017F;ein weißt du nicht,<lb/>
was du noch Alles an&#x017F;tellen will&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm<lb/>
war, und brach hervor: &#x201E;Ich will ja nur heim, und wenn<lb/>
ich &#x017F;o lang nicht komme, &#x017F;o muß das Schneehöppli immer<lb/>
klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Di&#x017F;tel¬<lb/>
fink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Kä&#x017F;e<lb/>
bekommt, und hier kann man gar nie &#x017F;ehen, wie die Sonne<lb/>
gute Nacht &#x017F;agt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel<lb/>
in Frankfurt oben über fliegen würde, &#x017F;o würde er noch<lb/>
viel lauter krächzen, daß &#x017F;o viele Men&#x017F;chen bei einander<lb/>
&#x017F;itzen und einander bös machen und nicht auf den Fel&#x017F;en<lb/>
gehen, wo es Einem wohl i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Barmherzigkeit, das Kind i&#x017F;t überge&#x017F;chnappt!&#x201C; rief<lb/>
Fräulein Rottenmeier aus und &#x017F;türzte mit Schrecken die<lb/>
Treppe hinauf, wo &#x017F;ie &#x017F;ehr un&#x017F;anft gegen den Seba&#x017F;tian<lb/>
rannte, der eben hinunter wollte. &#x201E;Holen Sie auf der<lb/>
Stelle das unglückliche We&#x017F;en herauf&#x201C;, rief &#x017F;ie ihm zu,<lb/>
indem &#x017F;ie &#x017F;ich den Kopf rieb, denn &#x017F;ie war hart ange¬<lb/>
&#x017F;toßen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja, ja, &#x017F;chon recht, danke &#x017F;chön&#x201C;, gab Seba&#x017F;tian zurück<lb/>
und rieb &#x017F;ich den &#x017F;einen, denn er war noch harter ange¬<lb/>
fahren.</p><lb/>
        <p>Heidi &#x017F;tand mit flammenden Augen noch auf der&#x017F;elben<lb/>
Stelle fe&#x017F;t und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0144] „Nichts fehlt dir, gar Nichts, du biſt ein ganz unglaublich undankbares Ding, und vor lauter Wohlſein weißt du nicht, was du noch Alles anſtellen willſt!“ Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm war, und brach hervor: „Ich will ja nur heim, und wenn ich ſo lang nicht komme, ſo muß das Schneehöppli immer klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Diſtel¬ fink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käſe bekommt, und hier kann man gar nie ſehen, wie die Sonne gute Nacht ſagt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel in Frankfurt oben über fliegen würde, ſo würde er noch viel lauter krächzen, daß ſo viele Menſchen bei einander ſitzen und einander bös machen und nicht auf den Felſen gehen, wo es Einem wohl iſt.“ „Barmherzigkeit, das Kind iſt übergeſchnappt!“ rief Fräulein Rottenmeier aus und ſtürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo ſie ſehr unſanft gegen den Sebaſtian rannte, der eben hinunter wollte. „Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Weſen herauf“, rief ſie ihm zu, indem ſie ſich den Kopf rieb, denn ſie war hart ange¬ ſtoßen. „Ja, ja, ſchon recht, danke ſchön“, gab Sebaſtian zurück und rieb ſich den ſeinen, denn er war noch harter ange¬ fahren. Heidi ſtand mit flammenden Augen noch auf derſelben Stelle feſt und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/144
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/144>, abgerufen am 02.05.2024.