nicht in der Kapelle. Ihr Schleier hing un- fern davon an dem Aste einer Tanne, unter deren Schatten man viele Huftritte erblickte.
Der arme Vater raßte, er sandte schleu- niges Aufgebot an alle seine Leibeigne, und irrte mit ihnen in der ganzen Gegend um- her, um sein einziges Kind zu suchen und zu finden. All seine Mühe war vergebens, er mußte heimkehren zur jammernden Mut- ter, und konnte ihr leidendes Herz mit kei- ner tröstenden Nachricht erfreuen. Die schöne Edeldrud war verschwunden, keine Spur ver- rieth ihren Aufenthalt, keine Botschaft von ihr erquickte die trauernden Eltern. Ehe ein Jahr verging, tödtete der Jammer die ar- me, schmachtende Mutter, ihre lezten Wor- te waren Seegen über ihre geraubte Tochter, wenn sie noch hienieden wallen sollte; ihr lez- ter Blick bewies es deutlich, daß sie solche
nicht in der Kapelle. Ihr Schleier hing un- fern davon an dem Aſte einer Tanne, unter deren Schatten man viele Huftritte erblickte.
Der arme Vater raßte, er ſandte ſchleu- niges Aufgebot an alle ſeine Leibeigne, und irrte mit ihnen in der ganzen Gegend um- her, um ſein einziges Kind zu ſuchen und zu finden. All ſeine Muͤhe war vergebens, er mußte heimkehren zur jammernden Mut- ter, und konnte ihr leidendes Herz mit kei- ner troͤſtenden Nachricht erfreuen. Die ſchoͤne Edeldrud war verſchwunden, keine Spur ver- rieth ihren Aufenthalt, keine Botſchaft von ihr erquickte die trauernden Eltern. Ehe ein Jahr verging, toͤdtete der Jammer die ar- me, ſchmachtende Mutter, ihre lezten Wor- te waren Seegen uͤber ihre geraubte Tochter, wenn ſie noch hienieden wallen ſollte; ihr lez- ter Blick bewies es deutlich, daß ſie ſolche
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nicht in der Kapelle. Ihr Schleier hing un-
fern davon an dem Aſte einer Tanne, unter
deren Schatten man viele Huftritte erblickte.
Der arme Vater raßte, er ſandte ſchleu-
niges Aufgebot an alle ſeine Leibeigne, und
irrte mit ihnen in der ganzen Gegend um-
her, um ſein einziges Kind zu ſuchen und
zu finden. All ſeine Muͤhe war vergebens,
er mußte heimkehren zur jammernden Mut-
ter, und konnte ihr leidendes Herz mit kei-
ner troͤſtenden Nachricht erfreuen. Die ſchoͤne
Edeldrud war verſchwunden, keine Spur ver-
rieth ihren Aufenthalt, keine Botſchaft von
ihr erquickte die trauernden Eltern. Ehe ein
Jahr verging, toͤdtete der Jammer die ar-
me, ſchmachtende Mutter, ihre lezten Wor-
te waren Seegen uͤber ihre geraubte Tochter,
wenn ſie noch hienieden wallen ſollte; ihr lez-
ter Blick bewies es deutlich, daß ſie ſolche
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/320>, abgerufen am 22.11.2024.
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