Edeldrud, so hieß die Jungfrau, ward fromm und tugendsam erzogen, sie konnte kräftige Morgen- und Abendgebete aus dem Stegreife sprechen, und wenn sie in der Ka- pelle vorbetete, so eilten alle Bewohner der Veste herbei, um nachzubeten, was ihr hol- der Mund so lieblich und andächtiglich aus- sprach. Auf einem der nahen Felsen, welche sich, links und rechts der Veste, in großer Anzahl in die Höhe thürmten, hatte einer ihrer Vorahnen eine Kapelle zu Ehren der heiligsten Jungfrau erbaut. Dorthin wall- fahrtete sie oft mit ihrer Magd, und betete stundenlang, wenn ihr Vater in der Nähe jagte.
Eben war sie siebzehn Jahr alt, als sie auch dahin wallfahrtete, und nicht wieder- kehrte, wie die Sonne sich schon hinter dem Forste versteckt hatte. Der besorgte Vater ging aus, um sie zu suchen, und fand sie
Biogr. d. W. 3. B. U
Edeldrud, ſo hieß die Jungfrau, ward fromm und tugendſam erzogen, ſie konnte kraͤftige Morgen- und Abendgebete aus dem Stegreife ſprechen, und wenn ſie in der Ka- pelle vorbetete, ſo eilten alle Bewohner der Veſte herbei, um nachzubeten, was ihr hol- der Mund ſo lieblich und andaͤchtiglich aus- ſprach. Auf einem der nahen Felſen, welche ſich, links und rechts der Veſte, in großer Anzahl in die Hoͤhe thuͤrmten, hatte einer ihrer Vorahnen eine Kapelle zu Ehren der heiligſten Jungfrau erbaut. Dorthin wall- fahrtete ſie oft mit ihrer Magd, und betete ſtundenlang, wenn ihr Vater in der Naͤhe jagte.
Eben war ſie ſiebzehn Jahr alt, als ſie auch dahin wallfahrtete, und nicht wieder- kehrte, wie die Sonne ſich ſchon hinter dem Forſte verſteckt hatte. Der beſorgte Vater ging aus, um ſie zu ſuchen, und fand ſie
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Edeldrud, ſo hieß die Jungfrau, ward
fromm und tugendſam erzogen, ſie konnte
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Stegreife ſprechen, und wenn ſie in der Ka-
pelle vorbetete, ſo eilten alle Bewohner der
Veſte herbei, um nachzubeten, was ihr hol-
der Mund ſo lieblich und andaͤchtiglich aus-
ſprach. Auf einem der nahen Felſen, welche
ſich, links und rechts der Veſte, in großer
Anzahl in die Hoͤhe thuͤrmten, hatte einer
ihrer Vorahnen eine Kapelle zu Ehren der
heiligſten Jungfrau erbaut. Dorthin wall-
fahrtete ſie oft mit ihrer Magd, und betete
ſtundenlang, wenn ihr Vater in der Naͤhe
jagte.
Eben war ſie ſiebzehn Jahr alt, als ſie
auch dahin wallfahrtete, und nicht wieder-
kehrte, wie die Sonne ſich ſchon hinter dem
Forſte verſteckt hatte. Der beſorgte Vater
ging aus, um ſie zu ſuchen, und fand ſie
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/319>, abgerufen am 16.02.2025.
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