Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
los nieder, erhob sich aber schnell, weil sie Ent- deckung fürchtete. In ihrem Herzen stürmte es mächtig, sie lebte bisher fromm und heilig, kein Gedanke an die Welt und ihre Freuden störte sie in ihrer Einsamkeit, sie suchte Ruhe im Kloster, Trost im eifrigen Gebete, und glaubte beides wirklich gefunden zu haben. Nun sah sie aber Friedrichen wieder, ihr Herz wurde durch seinen Brief, durch seine ängstlichen Geberden von sei- ner Treue überzeugt, es hatte ihn noch nie ver- gessen können, es liebte ihn vom Neuen, und hef- tiger als jemals. Der Eid, den sie geleistet hat- te, schien sie nicht zu binden, seine Untreue zwang ihr solchen ab, seine Treue vernichtete ihn. Aus Liebe zu Friedrichen war sie Christin geworden; um sein Andenken ewig zu feiern, war sie ins Kloster gegangen, um ihn wieder sehen und lieben zu kön- nen, war sie fest entschlossen, es in seinen Armen sogleich zu verlassen. Die Grundsätze der Religion, die diesen Vorsatz hindern sollten, hatten noch nicht tiefe Wurzel in ihrem Gewissen gefaßt, mächtiger und kräftiger keimte im Herzen die Lie- be wieder, welche ohnehin jede, auch die stärkste Fesseln zerreißt, und alles überwindet. Der folgende Tag war ein Sonnabend, sie be- tete und arbeitete nicht, sie eilte zehnmal nach dem Garten, sah immer nach dem Dache, und sah ganz natürlich nichts. Als endlich der Tag endigte, gedachte sie erst der großen Hindernisse, welche sie noch von ihrem Friedrich trennten. Die
los nieder, erhob ſich aber ſchnell, weil ſie Ent- deckung fuͤrchtete. In ihrem Herzen ſtuͤrmte es maͤchtig, ſie lebte bisher fromm und heilig, kein Gedanke an die Welt und ihre Freuden ſtoͤrte ſie in ihrer Einſamkeit, ſie ſuchte Ruhe im Kloſter, Troſt im eifrigen Gebete, und glaubte beides wirklich gefunden zu haben. Nun ſah ſie aber Friedrichen wieder, ihr Herz wurde durch ſeinen Brief, durch ſeine aͤngſtlichen Geberden von ſei- ner Treue uͤberzeugt, es hatte ihn noch nie ver- geſſen koͤnnen, es liebte ihn vom Neuen, und hef- tiger als jemals. Der Eid, den ſie geleiſtet hat- te, ſchien ſie nicht zu binden, ſeine Untreue zwang ihr ſolchen ab, ſeine Treue vernichtete ihn. Aus Liebe zu Friedrichen war ſie Chriſtin geworden; um ſein Andenken ewig zu feiern, war ſie ins Kloſter gegangen, um ihn wieder ſehen und lieben zu koͤn- nen, war ſie feſt entſchloſſen, es in ſeinen Armen ſogleich zu verlaſſen. Die Grundſaͤtze der Religion, die dieſen Vorſatz hindern ſollten, hatten noch nicht tiefe Wurzel in ihrem Gewiſſen gefaßt, maͤchtiger und kraͤftiger keimte im Herzen die Lie- be wieder, welche ohnehin jede, auch die ſtaͤrkſte Feſſeln zerreißt, und alles uͤberwindet. Der folgende Tag war ein Sonnabend, ſie be- tete und arbeitete nicht, ſie eilte zehnmal nach dem Garten, ſah immer nach dem Dache, und ſah ganz natuͤrlich nichts. Als endlich der Tag endigte, gedachte ſie erſt der großen Hinderniſſe, welche ſie noch von ihrem Friedrich trennten. Die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ESTHER"> <p><pb facs="#f0037" n="29"/> los nieder, erhob ſich aber ſchnell, weil ſie Ent-<lb/> deckung fuͤrchtete. In ihrem Herzen ſtuͤrmte es<lb/> maͤchtig, ſie lebte bisher fromm und heilig, kein<lb/> Gedanke an die Welt und ihre Freuden ſtoͤrte ſie<lb/> in ihrer Einſamkeit, ſie ſuchte Ruhe im Kloſter,<lb/> Troſt im eifrigen Gebete, und glaubte beides<lb/> wirklich gefunden zu haben. Nun ſah ſie aber<lb/> Friedrichen wieder, ihr Herz wurde durch ſeinen<lb/> Brief, durch ſeine aͤngſtlichen Geberden von ſei-<lb/> ner Treue uͤberzeugt, es hatte ihn noch nie ver-<lb/> geſſen koͤnnen, es liebte ihn vom Neuen, und hef-<lb/> tiger als jemals. Der Eid, den ſie geleiſtet hat-<lb/> te, ſchien ſie nicht zu binden, ſeine Untreue zwang<lb/> ihr ſolchen ab, ſeine Treue vernichtete ihn. Aus<lb/> Liebe zu Friedrichen war ſie Chriſtin geworden; um<lb/> ſein Andenken ewig zu feiern, war ſie ins Kloſter<lb/> gegangen, um ihn wieder ſehen und lieben zu koͤn-<lb/> nen, war ſie feſt entſchloſſen, es in ſeinen Armen<lb/> ſogleich zu verlaſſen. Die Grundſaͤtze der Religion,<lb/> die dieſen Vorſatz hindern ſollten, hatten noch<lb/> nicht tiefe Wurzel in ihrem Gewiſſen gefaßt,<lb/> maͤchtiger und kraͤftiger keimte im Herzen die Lie-<lb/> be wieder, welche ohnehin jede, auch die ſtaͤrkſte<lb/> Feſſeln zerreißt, und alles uͤberwindet.</p><lb/> <p>Der folgende Tag war ein Sonnabend, ſie be-<lb/> tete und arbeitete nicht, ſie eilte zehnmal nach<lb/> dem Garten, ſah immer nach dem Dache, und<lb/> ſah ganz natuͤrlich nichts. Als endlich der Tag<lb/> endigte, gedachte ſie erſt der großen Hinderniſſe,<lb/> welche ſie noch von ihrem Friedrich trennten. Die<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [29/0037]
los nieder, erhob ſich aber ſchnell, weil ſie Ent-
deckung fuͤrchtete. In ihrem Herzen ſtuͤrmte es
maͤchtig, ſie lebte bisher fromm und heilig, kein
Gedanke an die Welt und ihre Freuden ſtoͤrte ſie
in ihrer Einſamkeit, ſie ſuchte Ruhe im Kloſter,
Troſt im eifrigen Gebete, und glaubte beides
wirklich gefunden zu haben. Nun ſah ſie aber
Friedrichen wieder, ihr Herz wurde durch ſeinen
Brief, durch ſeine aͤngſtlichen Geberden von ſei-
ner Treue uͤberzeugt, es hatte ihn noch nie ver-
geſſen koͤnnen, es liebte ihn vom Neuen, und hef-
tiger als jemals. Der Eid, den ſie geleiſtet hat-
te, ſchien ſie nicht zu binden, ſeine Untreue zwang
ihr ſolchen ab, ſeine Treue vernichtete ihn. Aus
Liebe zu Friedrichen war ſie Chriſtin geworden; um
ſein Andenken ewig zu feiern, war ſie ins Kloſter
gegangen, um ihn wieder ſehen und lieben zu koͤn-
nen, war ſie feſt entſchloſſen, es in ſeinen Armen
ſogleich zu verlaſſen. Die Grundſaͤtze der Religion,
die dieſen Vorſatz hindern ſollten, hatten noch
nicht tiefe Wurzel in ihrem Gewiſſen gefaßt,
maͤchtiger und kraͤftiger keimte im Herzen die Lie-
be wieder, welche ohnehin jede, auch die ſtaͤrkſte
Feſſeln zerreißt, und alles uͤberwindet.
Der folgende Tag war ein Sonnabend, ſie be-
tete und arbeitete nicht, ſie eilte zehnmal nach
dem Garten, ſah immer nach dem Dache, und
ſah ganz natuͤrlich nichts. Als endlich der Tag
endigte, gedachte ſie erſt der großen Hinderniſſe,
welche ſie noch von ihrem Friedrich trennten. Die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |