stand war unwiederbringlich verloren, der schreck- liche Anblick des todten Vaters, die noch schreckli- chere Vermuthung, daß sie die Schuld desselben trage, hatte ihn zerrüttet. Sie raßte, überwäl- tigte oft die Wärterinnen, und suchte ein Werk- zeug, um sich zu ermorden. Ich habe ihm den Dolch in's Herz gestoßen, das Blut floß strom- weiße von seinem Sarg herab, rief sie immer, ich habe den schrecklichsten Tod verdient, ihr müßt mich binden, und dem Gerichte überlie- fern!
Am Abende mußte die betrübte Gemeinde auch wirklich zu diesem Mittel schreiten, und ihre Hände fesseln, denn sie hatte sich einigemal schon selbst erdrosseln wollen. Sie hoften noch immer sehnlich auf Besserung, als sie nicht erfolgte, holten sie auf ihre Unkosten einen berühmten Arzt. Er konnte in ihren Umständen wenig zu ihrer Lin- derung, zur vollkommnen Hülfe gar nichts, bei- tragen, doch behauptete er, daß es sich mit ihrer Entbindung, die jetzt mächtig nahte, von selbst bessern werde. Ehe diese Stunde ganz nahte, duldete die arme Wahnsinnige schreckliche Mar- tern und Leiden, ihre Einbildungskraft führte sie jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke. Oft stand sie vor ihren Richtern, bekannte mit rührenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte sich endlich selbst als Vatermörderin an; sie ließ
ſtand war unwiederbringlich verloren, der ſchreck- liche Anblick des todten Vaters, die noch ſchreckli- chere Vermuthung, daß ſie die Schuld deſſelben trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl- tigte oft die Waͤrterinnen, und ſuchte ein Werk- zeug, um ſich zu ermorden. Ich habe ihm den Dolch in's Herz geſtoßen, das Blut floß ſtrom- weiße von ſeinem Sarg herab, rief ſie immer, ich habe den ſchrecklichſten Tod verdient, ihr muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie- fern!
Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch wirklich zu dieſem Mittel ſchreiten, und ihre Haͤnde feſſeln, denn ſie hatte ſich einigemal ſchon ſelbſt erdroſſeln wollen. Sie hoften noch immer ſehnlich auf Beſſerung, als ſie nicht erfolgte, holten ſie auf ihre Unkoſten einen beruͤhmten Arzt. Er konnte in ihren Umſtaͤnden wenig zu ihrer Lin- derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei- tragen, doch behauptete er, daß es ſich mit ihrer Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von ſelbſt beſſern werde. Ehe dieſe Stunde ganz nahte, duldete die arme Wahnſinnige ſchreckliche Mar- tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte ſie jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke. Oft ſtand ſie vor ihren Richtern, bekannte mit ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte ſich endlich ſelbſt als Vatermoͤrderin an; ſie ließ
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ſtand war unwiederbringlich verloren, der ſchreck-
liche Anblick des todten Vaters, die noch ſchreckli-
chere Vermuthung, daß ſie die Schuld deſſelben
trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl-
tigte oft die Waͤrterinnen, und ſuchte ein Werk-
zeug, um ſich zu ermorden. Ich habe ihm den
Dolch in's Herz geſtoßen, das Blut floß ſtrom-
weiße von ſeinem Sarg herab, rief ſie immer,
ich habe den ſchrecklichſten Tod verdient, ihr
muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie-
fern!
Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch
wirklich zu dieſem Mittel ſchreiten, und ihre
Haͤnde feſſeln, denn ſie hatte ſich einigemal ſchon
ſelbſt erdroſſeln wollen. Sie hoften noch immer
ſehnlich auf Beſſerung, als ſie nicht erfolgte,
holten ſie auf ihre Unkoſten einen beruͤhmten Arzt.
Er konnte in ihren Umſtaͤnden wenig zu ihrer Lin-
derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei-
tragen, doch behauptete er, daß es ſich mit ihrer
Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von ſelbſt
beſſern werde. Ehe dieſe Stunde ganz nahte,
duldete die arme Wahnſinnige ſchreckliche Mar-
tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte ſie
jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies
war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke.
Oft ſtand ſie vor ihren Richtern, bekannte mit
ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte
ſich endlich ſelbſt als Vatermoͤrderin an; ſie ließ
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/98>, abgerufen am 16.02.2025.
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