den Stab über sich brechen, ward zum Schwerte verurtheilt, und hörte ihr Urtheil mit Standhaf- tigkeit an. Aeußerst rührend und traurig war es für die Wärterinnen, wenn sie sich durch Hülfe ihres Wahnsinns nach dem Rabenstein führen ließ, sie wurde dann vergnügt und froh, versöhnte sich innig mit Gott, sprach mit den Anwesenden ernstlich, und warnte jedes Mädchen mit den nachdrücklichsten Worten vor Verführung und Ver- lust der Unschuld. Eine lange, anhaltende Ohn- macht, in welcher sie sich hingerichtet wähnte, endete dann immer die schreckliche Szene, welche sie stets mehr und mehr entkräftete. Niemand hofte auf glückliche Entbindung, jeder weissagte ihr im Voraus mit dieser das Ende ihrer Leiden; endlich nahten sich ihre Schmerzen, sie waren der armen Wahnsinnigen neue, noch nie gefühlte Em- pfindungen, ihre Einbildungskraft wähnte, daß sie am Hochgericht stehe, und mit glühenden Zangen gezwickt werde. Sie flehte oft ihre Hen- ker um Barmherzigkeit an, und nannte sie un- menschliche Barbaren. Nach vier und zwanzig- stündigem Leiden gebahr sie, zum Erstaunen aller Anwesenden, ein gesundes, wohlgestaltes Mäd- chen; die Aenderung, welche der verständige Arzt prophezeiht hatte, erfolgte schnell. Alle Anwesen- de jubelten und frohlockten, als sie ihr Schmer- zenskind forderte, und es mit allen Beweisen der reinsten Zärtlichkeit einer Mutter an ihr Herz drückte, sie war äußerst schwach, aber bei voll-
den Stab uͤber ſich brechen, ward zum Schwerte verurtheilt, und hoͤrte ihr Urtheil mit Standhaf- tigkeit an. Aeußerſt ruͤhrend und traurig war es fuͤr die Waͤrterinnen, wenn ſie ſich durch Huͤlfe ihres Wahnſinns nach dem Rabenſtein fuͤhren ließ, ſie wurde dann vergnuͤgt und froh, verſoͤhnte ſich innig mit Gott, ſprach mit den Anweſenden ernſtlich, und warnte jedes Maͤdchen mit den nachdruͤcklichſten Worten vor Verfuͤhrung und Ver- luſt der Unſchuld. Eine lange, anhaltende Ohn- macht, in welcher ſie ſich hingerichtet waͤhnte, endete dann immer die ſchreckliche Szene, welche ſie ſtets mehr und mehr entkraͤftete. Niemand hofte auf gluͤckliche Entbindung, jeder weiſſagte ihr im Voraus mit dieſer das Ende ihrer Leiden; endlich nahten ſich ihre Schmerzen, ſie waren der armen Wahnſinnigen neue, noch nie gefuͤhlte Em- pfindungen, ihre Einbildungskraft waͤhnte, daß ſie am Hochgericht ſtehe, und mit gluͤhenden Zangen gezwickt werde. Sie flehte oft ihre Hen- ker um Barmherzigkeit an, und nannte ſie un- menſchliche Barbaren. Nach vier und zwanzig- ſtuͤndigem Leiden gebahr ſie, zum Erſtaunen aller Anweſenden, ein geſundes, wohlgeſtaltes Maͤd- chen; die Aenderung, welche der verſtaͤndige Arzt prophezeiht hatte, erfolgte ſchnell. Alle Anweſen- de jubelten und frohlockten, als ſie ihr Schmer- zenskind forderte, und es mit allen Beweiſen der reinſten Zaͤrtlichkeit einer Mutter an ihr Herz druͤckte, ſie war aͤußerſt ſchwach, aber bei voll-
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den Stab uͤber ſich brechen, ward zum Schwerte
verurtheilt, und hoͤrte ihr Urtheil mit Standhaf-
tigkeit an. Aeußerſt ruͤhrend und traurig war es
fuͤr die Waͤrterinnen, wenn ſie ſich durch Huͤlfe
ihres Wahnſinns nach dem Rabenſtein fuͤhren
ließ, ſie wurde dann vergnuͤgt und froh, verſoͤhnte
ſich innig mit Gott, ſprach mit den Anweſenden
ernſtlich, und warnte jedes Maͤdchen mit den
nachdruͤcklichſten Worten vor Verfuͤhrung und Ver-
luſt der Unſchuld. Eine lange, anhaltende Ohn-
macht, in welcher ſie ſich hingerichtet waͤhnte,
endete dann immer die ſchreckliche Szene, welche
ſie ſtets mehr und mehr entkraͤftete. Niemand
hofte auf gluͤckliche Entbindung, jeder weiſſagte
ihr im Voraus mit dieſer das Ende ihrer Leiden;
endlich nahten ſich ihre Schmerzen, ſie waren der
armen Wahnſinnigen neue, noch nie gefuͤhlte Em-
pfindungen, ihre Einbildungskraft waͤhnte, daß
ſie am Hochgericht ſtehe, und mit gluͤhenden
Zangen gezwickt werde. Sie flehte oft ihre Hen-
ker um Barmherzigkeit an, und nannte ſie un-
menſchliche Barbaren. Nach vier und zwanzig-
ſtuͤndigem Leiden gebahr ſie, zum Erſtaunen aller
Anweſenden, ein geſundes, wohlgeſtaltes Maͤd-
chen; die Aenderung, welche der verſtaͤndige Arzt
prophezeiht hatte, erfolgte ſchnell. Alle Anweſen-
de jubelten und frohlockten, als ſie ihr Schmer-
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reinſten Zaͤrtlichkeit einer Mutter an ihr Herz
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/99>, abgerufen am 16.02.2025.
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