laßne Waise zu sich. Alle Zeitgenossen erinnern sich, daß Karl in der Schule vorzüglich gut lern- te, und immer vom Schulmeister besonders gelobt wurde. Er wollte sehr gerne studieren, da aber sein Vetter die Kosten dazu nicht hergeben konn- te, so mußte er wider seinen Willen ein Schnei- der werden. Er war stets still und fleißig, aber er brachte es in seinem Handwerke nicht einmal zur mittelmäßigen Vollkommenheit, und verrieth in seiner Arbeit oft große Zerstreuung. Endlich gieng er einige Jahre auf die Wanderschaft, kam aber nicht viel geschickter nach Hause; er würde indeß doch daheim sein Brod verdient haben, wenn er nur fleißig hätte arbeiten wollen, aber nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte er ein Stückchen trocknes Brod, so sperrte er sich in sein Stübchen ein, und las Bücher, welche ihm der Zufall in die Hände führte. Daß er die meisten unrecht verstand, sich darinne Ideen zum Wahnsinne sammlete, lehrte und bewieß die Folge. Wahrscheinlich würde er ein großer, ein tiefdenkender Gelehrter geworden seyn, wenn seine Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren gehindert hätte. Selbst sein beinahe fünf und zwanzigjähriger Wahnsinn hat die Spuren seines offenen Kopfes, seines Genies noch nicht ganz vertilgt. Er schreibt eine gute, lesbare Schrift, er ist sehr gut in der Geschichte bewandert und spricht vom punischen wie vom hussiten Kriege mit gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah
laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern ſich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern- te, und immer vom Schulmeiſter beſonders gelobt wurde. Er wollte ſehr gerne ſtudieren, da aber ſein Vetter die Koſten dazu nicht hergeben konn- te, ſo mußte er wider ſeinen Willen ein Schnei- der werden. Er war ſtets ſtill und fleißig, aber er brachte es in ſeinem Handwerke nicht einmal zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth in ſeiner Arbeit oft große Zerſtreuung. Endlich gieng er einige Jahre auf die Wanderſchaft, kam aber nicht viel geſchickter nach Hauſe; er wuͤrde indeß doch daheim ſein Brod verdient haben, wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte er ein Stuͤckchen trocknes Brod, ſo ſperrte er ſich in ſein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er die meiſten unrecht verſtand, ſich darinne Ideen zum Wahnſinne ſammlete, lehrte und bewieß die Folge. Wahrſcheinlich wuͤrde er ein großer, ein tiefdenkender Gelehrter geworden ſeyn, wenn ſeine Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren gehindert haͤtte. Selbſt ſein beinahe fuͤnf und zwanzigjaͤhriger Wahnſinn hat die Spuren ſeines offenen Kopfes, ſeines Genies noch nicht ganz vertilgt. Er ſchreibt eine gute, lesbare Schrift, er iſt ſehr gut in der Geſchichte bewandert und ſpricht vom puniſchen wie vom huſſiten Kriege mit gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah
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laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern
ſich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern-
te, und immer vom Schulmeiſter beſonders gelobt
wurde. Er wollte ſehr gerne ſtudieren, da aber
ſein Vetter die Koſten dazu nicht hergeben konn-
te, ſo mußte er wider ſeinen Willen ein Schnei-
der werden. Er war ſtets ſtill und fleißig, aber
er brachte es in ſeinem Handwerke nicht einmal
zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth
in ſeiner Arbeit oft große Zerſtreuung. Endlich
gieng er einige Jahre auf die Wanderſchaft, kam
aber nicht viel geſchickter nach Hauſe; er wuͤrde
indeß doch daheim ſein Brod verdient haben,
wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber
nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte
er ein Stuͤckchen trocknes Brod, ſo ſperrte er ſich
in ſein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche
ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er
die meiſten unrecht verſtand, ſich darinne Ideen
zum Wahnſinne ſammlete, lehrte und bewieß die
Folge. Wahrſcheinlich wuͤrde er ein großer, ein
tiefdenkender Gelehrter geworden ſeyn, wenn ſeine
Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren
gehindert haͤtte. Selbſt ſein beinahe fuͤnf und
zwanzigjaͤhriger Wahnſinn hat die Spuren ſeines
offenen Kopfes, ſeines Genies noch nicht ganz
vertilgt. Er ſchreibt eine gute, lesbare Schrift,
er iſt ſehr gut in der Geſchichte bewandert und
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/69>, abgerufen am 16.02.2025.
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