Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.da er mir eine unendlich größere schuldig Sie schwieg nun stille, und wischte sich die Ich
da er mir eine unendlich groͤßere ſchuldig Sie ſchwieg nun ſtille, und wiſchte ſich die Ich
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da er mir eine unendlich groͤßere ſchuldig
iſt?
Sie ſchwieg nun ſtille, und wiſchte ſich die
Thraͤnen von den Wangen, welche die Erinnerung
ihres Ungluͤcks den Augen reichlich entlockt hatte.
Wie ich noch vor ihr ſtand, einige Worte des
Troſtes fuͤr ſie ſuchte, und keine fand, laͤutete
man im Dorfe die Mittagsglocke, ſie horchte.
Schon Mittag, ſprach ſie, dann muß ich nach
Hauſe eilen, mein armes Kind wird hungern!
Bei dieſen Worten ſtand ſie ſchnell auf, ließ ihre
Holz-Buͤrde liegen, und gieng mit ſtarken Schrit-
ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut-
ſcher, im Wirthshauſe die Pferde zu fuͤttern, und
eilte ihr nach. Ich wollte, wo moͤglich, ihr Kind
ſehen und ſprechen, ich fuͤhlte im Voraus, daß
es meinem Herzen aͤuſſerſt weh thun wuͤrde, wenn
ich ein junges, wahnſinniges Maͤdchen in der
Geſellſchaft einer eben ſo wahnſinnigen Mutter
ſprechen ſollte, aber dies Maͤdchen ſchien mir die
groͤßte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge-
wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz
uͤber das unverdiente Ungluͤck einer geliebten Mut-
ter wahnſinnig wurde. Daß die letztere auch ih-
ren Verſtand verlohren hatte, wunderte mich jetzt
nicht mehr, denn wer uͤber ſolche Dinge den
Verſtand nicht verliert, der hat wohl keinen zu
verlieren.
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