jungen Raben füttert, aber daß der Mensch ein gleiches erwarten, und fordern kann, davon steht nichts geschrieben. Sorgt nicht für den andern Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat seine Plage! (bitter lachend) Ja, ja, er hat sie im vollen Maaß. -- -- Die Freuden des Him- mels müssen ewig dauern, müssen alle Beschrei- bung übertreffen, wenn sie Ersatz für das irrdische Leiden seyn sollen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Freunde, von denen Sie Unterstützung erwarten könnten?
Die Alte. Freunde? Bester Herr, diese Frage war wohl sehr überflüssig! Kann Feuer und Wasser in Harmonie mit einander bestehen? Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's für unnöthig, und haben recht. Ich habe Freunde, aber sie sind vornehm und reich, sie fühlen die Qualen der Armuth nicht, sie schämen sich meiner, und fliehen, wenn ich mich nahe.
Ich. Das ist schrecklich!
Die Alte. Nein, das ist es nicht! In die- sem Falle denken wir verschieden. Der Stolz mei- ner Freunde kränkt mich nicht, ich habe Kraft ge- nug, ihn zu verachten. Ich würde eher Hunger sterben, mein einziges Kind lieber verschmachten sehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an- nehme. Tadeln Sie diesen Vorsatz nicht, das Elend hat auch seine Launen, und diese ist bei mir
Erst. Bändch. L
jungen Raben fuͤttert, aber daß der Menſch ein gleiches erwarten, und fordern kann, davon ſteht nichts geſchrieben. Sorgt nicht fuͤr den andern Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat ſeine Plage! (bitter lachend) Ja, ja, er hat ſie im vollen Maaß. — — Die Freuden des Him- mels muͤſſen ewig dauern, muͤſſen alle Beſchrei- bung uͤbertreffen, wenn ſie Erſatz fuͤr das irrdiſche Leiden ſeyn ſollen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Freunde, von denen Sie Unterſtuͤtzung erwarten koͤnnten?
Die Alte. Freunde? Beſter Herr, dieſe Frage war wohl ſehr uͤberfluͤſſig! Kann Feuer und Waſſer in Harmonie mit einander beſtehen? Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's fuͤr unnoͤthig, und haben recht. Ich habe Freunde, aber ſie ſind vornehm und reich, ſie fuͤhlen die Qualen der Armuth nicht, ſie ſchaͤmen ſich meiner, und fliehen, wenn ich mich nahe.
Ich. Das iſt ſchrecklich!
Die Alte. Nein, das iſt es nicht! In die- ſem Falle denken wir verſchieden. Der Stolz mei- ner Freunde kraͤnkt mich nicht, ich habe Kraft ge- nug, ihn zu verachten. Ich wuͤrde eher Hunger ſterben, mein einziges Kind lieber verſchmachten ſehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an- nehme. Tadeln Sie dieſen Vorſatz nicht, das Elend hat auch ſeine Launen, und dieſe iſt bei mir
Erſt. Baͤndch. L
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0175"n="161"/>
jungen Raben fuͤttert, aber daß der Menſch ein<lb/>
gleiches erwarten, und fordern kann, davon ſteht<lb/>
nichts geſchrieben. Sorgt nicht fuͤr den andern<lb/>
Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat ſeine<lb/>
Plage! <hirendition="#g">(bitter lachend)</hi> Ja, ja, er hat ſie<lb/>
im vollen Maaß. —— Die Freuden des Him-<lb/>
mels muͤſſen ewig dauern, muͤſſen alle Beſchrei-<lb/>
bung uͤbertreffen, wenn ſie Erſatz fuͤr das irrdiſche<lb/>
Leiden ſeyn ſollen!</p><lb/><p><hirendition="#g">Ich</hi>. Haben Sie denn gar keine Freunde,<lb/>
von denen Sie Unterſtuͤtzung erwarten koͤnnten?</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">Alte</hi>. Freunde? Beſter Herr, dieſe<lb/>
Frage war wohl ſehr uͤberfluͤſſig! Kann Feuer<lb/>
und Waſſer in Harmonie mit einander beſtehen?<lb/>
Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's fuͤr<lb/>
unnoͤthig, und haben recht. Ich habe Freunde,<lb/>
aber ſie ſind vornehm und reich, ſie fuͤhlen die<lb/>
Qualen der Armuth nicht, ſie ſchaͤmen ſich meiner,<lb/>
und fliehen, wenn ich mich nahe.</p><lb/><p><hirendition="#g">Ich</hi>. Das iſt ſchrecklich!</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">Alte</hi>. Nein, das iſt es nicht! In die-<lb/>ſem Falle denken wir verſchieden. Der Stolz mei-<lb/>
ner Freunde kraͤnkt mich nicht, ich habe Kraft ge-<lb/>
nug, ihn zu verachten. Ich wuͤrde eher Hunger<lb/>ſterben, mein einziges Kind lieber verſchmachten<lb/>ſehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an-<lb/>
nehme. Tadeln Sie dieſen Vorſatz nicht, das<lb/>
Elend hat auch ſeine Launen, und dieſe iſt bei mir<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Erſt. Baͤndch.</hi> L</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[161/0175]
jungen Raben fuͤttert, aber daß der Menſch ein
gleiches erwarten, und fordern kann, davon ſteht
nichts geſchrieben. Sorgt nicht fuͤr den andern
Morgen, heißt's nur, denn jeder Tag hat ſeine
Plage! (bitter lachend) Ja, ja, er hat ſie
im vollen Maaß. — — Die Freuden des Him-
mels muͤſſen ewig dauern, muͤſſen alle Beſchrei-
bung uͤbertreffen, wenn ſie Erſatz fuͤr das irrdiſche
Leiden ſeyn ſollen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Freunde,
von denen Sie Unterſtuͤtzung erwarten koͤnnten?
Die Alte. Freunde? Beſter Herr, dieſe
Frage war wohl ſehr uͤberfluͤſſig! Kann Feuer
und Waſſer in Harmonie mit einander beſtehen?
Nun, Sie antworten nicht? Sie halten's fuͤr
unnoͤthig, und haben recht. Ich habe Freunde,
aber ſie ſind vornehm und reich, ſie fuͤhlen die
Qualen der Armuth nicht, ſie ſchaͤmen ſich meiner,
und fliehen, wenn ich mich nahe.
Ich. Das iſt ſchrecklich!
Die Alte. Nein, das iſt es nicht! In die-
ſem Falle denken wir verſchieden. Der Stolz mei-
ner Freunde kraͤnkt mich nicht, ich habe Kraft ge-
nug, ihn zu verachten. Ich wuͤrde eher Hunger
ſterben, mein einziges Kind lieber verſchmachten
ſehen, ehe ich einen Pfennig aus ihrer Hand an-
nehme. Tadeln Sie dieſen Vorſatz nicht, das
Elend hat auch ſeine Launen, und dieſe iſt bei mir
Erſt. Baͤndch. L
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/175>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.