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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

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werden lassen, aber er hört meine Stimme nicht,
er ist taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich
habe ich ihn sehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn
sonst versöhnen! Oder ist der Mutterfluch unaus-
löschbar? Das mag's seyn, mich drückt er we-
nigstens schrecklich.

Ich. Ich nehme den innigsten Antheil an
Ihrem Unglücke, stünde es in meiner Macht, es
zu tilgen, nur zu mildern, ich würde alles an-
wenden. -- --

Die Alte. Dank, edler Freund, Dank!
Mitleid ist auch ein Allmosen, das des Elends
Wunden salbt, und seine Schmerzen kühlt. Glau-
ben Sie's fest, denn ich rede leider aus Erfah-
rung. Ein Gulden, den mir ein gefühlloser Rei-
cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber
ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge-
drückt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach,
Gott! was habe ich alles dulden und erfahren
müssen!

Ich. Haben Sie denn gar keine Aussicht auf
bessere Zeiten?

Die Alte. Keine, aber auf noch schlechtere
desto sichere! Bald, recht bald werde ich nicht
mehr kriechen können, und dann will ich doch se-
hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde
werden soll? Es steht zwar in der Bibel, daß
Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die

jungen

werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht,
er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich
habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn
ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus-
loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we-
nigſtens ſchrecklich.

Ich. Ich nehme den innigſten Antheil an
Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es
zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an-
wenden. — —

Die Alte. Dank, edler Freund, Dank!
Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends
Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau-
ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah-
rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei-
cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber
ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge-
druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach,
Gott! was habe ich alles dulden und erfahren
muͤſſen!

Ich. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf
beſſere Zeiten?

Die Alte. Keine, aber auf noch ſchlechtere
deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht
mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe-
hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde
werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß
Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die

jungen
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[160/0174] werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht, er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus- loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we- nigſtens ſchrecklich. Ich. Ich nehme den innigſten Antheil an Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an- wenden. — — Die Alte. Dank, edler Freund, Dank! Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau- ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah- rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei- cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge- druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach, Gott! was habe ich alles dulden und erfahren muͤſſen! Ich. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf beſſere Zeiten? Die Alte. Keine, aber auf noch ſchlechtere deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe- hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die jungen

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/174>, abgerufen am 26.04.2024.