Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

es nicht hindern, als sie die Thüre versperrte,
und sie diesen Abend niemanden mehr öffnete.

So viele, vergebne Versuche erschöpften die
Hofnung des liebenden Jünglings, er überließ
sich ganz dem Kummer und Grame, der nach ei-
nigen Wochen sichtbar an seiner schönen Gestalt
nagte. Er übergab sein kleines Kapital dem Pfar-
rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei Jah-
re, welches die höchste Dauer seines unglücklichen
Lebens seyn würde, dafür ernähren solle. Der
menschenfreundliche Pfarrer legte es in sein Pult,
versprach ihm Kost und Wohnung, und versicherte
ihn nebenbei, daß diese Summe, wenn Gott früh
oder spät sein Leiden ende, das Erbtheil seines
Kindes werden solle. Dieses nur einmal in der
Nähe zu sehen, nur einmal zu küssen, war jetzt
der einzige Wunsch des armen Wilhelms, aber
auch diesen versagte ihm das harte Schicksal, denn
die Mutter bewachte es mit größter Sorgfalt und
Mißtrauen, und ließ es nie unter der Aufsicht ei-
nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die
kleine Wilhelmine im Nähen und Stricken, im
Lesen und Schreiben, auch in der Religion, und
in dieser letztern so ächt und rein, daß der streng-
ste Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und
doch war und blieb sie wahnsinnig.

Wilhelm erschien jetzt jeden Morgen wieder re-
gelmäßig am Fenster seines Lottchens, sie erwartete

ihn

es nicht hindern, als ſie die Thuͤre verſperrte,
und ſie dieſen Abend niemanden mehr oͤffnete.

So viele, vergebne Verſuche erſchoͤpften die
Hofnung des liebenden Juͤnglings, er uͤberließ
ſich ganz dem Kummer und Grame, der nach ei-
nigen Wochen ſichtbar an ſeiner ſchoͤnen Geſtalt
nagte. Er uͤbergab ſein kleines Kapital dem Pfar-
rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei Jah-
re, welches die hoͤchſte Dauer ſeines ungluͤcklichen
Lebens ſeyn wuͤrde, dafuͤr ernaͤhren ſolle. Der
menſchenfreundliche Pfarrer legte es in ſein Pult,
verſprach ihm Koſt und Wohnung, und verſicherte
ihn nebenbei, daß dieſe Summe, wenn Gott fruͤh
oder ſpaͤt ſein Leiden ende, das Erbtheil ſeines
Kindes werden ſolle. Dieſes nur einmal in der
Naͤhe zu ſehen, nur einmal zu kuͤſſen, war jetzt
der einzige Wunſch des armen Wilhelms, aber
auch dieſen verſagte ihm das harte Schickſal, denn
die Mutter bewachte es mit groͤßter Sorgfalt und
Mißtrauen, und ließ es nie unter der Aufſicht ei-
nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die
kleine Wilhelmine im Naͤhen und Stricken, im
Leſen und Schreiben, auch in der Religion, und
in dieſer letztern ſo aͤcht und rein, daß der ſtreng-
ſte Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und
doch war und blieb ſie wahnſinnig.

Wilhelm erſchien jetzt jeden Morgen wieder re-
gelmaͤßig am Fenſter ſeines Lottchens, ſie erwartete

ihn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0110" n="96"/>
es nicht                     hindern, als &#x017F;ie die Thu&#x0364;re ver&#x017F;perrte,<lb/>
und &#x017F;ie die&#x017F;en Abend niemanden mehr                     o&#x0364;ffnete.</p><lb/>
        <p>So viele, vergebne Ver&#x017F;uche er&#x017F;cho&#x0364;pften die<lb/>
Hofnung des liebenden                     Ju&#x0364;nglings, er u&#x0364;berließ<lb/>
&#x017F;ich ganz dem Kummer und Grame, der nach                     ei-<lb/>
nigen Wochen &#x017F;ichtbar an &#x017F;einer &#x017F;cho&#x0364;nen Ge&#x017F;talt<lb/>
nagte. Er u&#x0364;bergab                     &#x017F;ein kleines Kapital dem Pfar-<lb/>
rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei                     Jah-<lb/>
re, welches die ho&#x0364;ch&#x017F;te Dauer &#x017F;eines unglu&#x0364;cklichen<lb/>
Lebens &#x017F;eyn                     wu&#x0364;rde, dafu&#x0364;r erna&#x0364;hren &#x017F;olle. Der<lb/>
men&#x017F;chenfreundliche Pfarrer legte es in                     &#x017F;ein Pult,<lb/>
ver&#x017F;prach ihm Ko&#x017F;t und Wohnung, und ver&#x017F;icherte<lb/>
ihn nebenbei,                     daß die&#x017F;e Summe, wenn Gott fru&#x0364;h<lb/>
oder &#x017F;pa&#x0364;t &#x017F;ein Leiden ende, das Erbtheil                     &#x017F;eines<lb/>
Kindes werden &#x017F;olle. Die&#x017F;es nur einmal in der<lb/>
Na&#x0364;he zu &#x017F;ehen, nur                     einmal zu ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, war jetzt<lb/>
der einzige Wun&#x017F;ch des armen Wilhelms,                     aber<lb/>
auch die&#x017F;en ver&#x017F;agte ihm das harte Schick&#x017F;al, denn<lb/>
die Mutter                     bewachte es mit gro&#x0364;ßter Sorgfalt und<lb/>
Mißtrauen, und ließ es nie unter der                     Auf&#x017F;icht ei-<lb/>
nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die<lb/>
kleine                     Wilhelmine im Na&#x0364;hen und Stricken, im<lb/>
Le&#x017F;en und Schreiben, auch in der                     Religion, und<lb/>
in die&#x017F;er letztern &#x017F;o a&#x0364;cht und rein, daß der &#x017F;treng-<lb/>
&#x017F;te                     Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und<lb/>
doch war und blieb &#x017F;ie                     wahn&#x017F;innig.</p><lb/>
        <p>Wilhelm er&#x017F;chien jetzt jeden Morgen wieder re-<lb/>
gelma&#x0364;ßig am Fen&#x017F;ter &#x017F;eines                     Lottchens, &#x017F;ie erwartete<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihn</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0110] es nicht hindern, als ſie die Thuͤre verſperrte, und ſie dieſen Abend niemanden mehr oͤffnete. So viele, vergebne Verſuche erſchoͤpften die Hofnung des liebenden Juͤnglings, er uͤberließ ſich ganz dem Kummer und Grame, der nach ei- nigen Wochen ſichtbar an ſeiner ſchoͤnen Geſtalt nagte. Er uͤbergab ſein kleines Kapital dem Pfar- rer, und bat ihn, daß er ihn ein oder zwei Jah- re, welches die hoͤchſte Dauer ſeines ungluͤcklichen Lebens ſeyn wuͤrde, dafuͤr ernaͤhren ſolle. Der menſchenfreundliche Pfarrer legte es in ſein Pult, verſprach ihm Koſt und Wohnung, und verſicherte ihn nebenbei, daß dieſe Summe, wenn Gott fruͤh oder ſpaͤt ſein Leiden ende, das Erbtheil ſeines Kindes werden ſolle. Dieſes nur einmal in der Naͤhe zu ſehen, nur einmal zu kuͤſſen, war jetzt der einzige Wunſch des armen Wilhelms, aber auch dieſen verſagte ihm das harte Schickſal, denn die Mutter bewachte es mit groͤßter Sorgfalt und Mißtrauen, und ließ es nie unter der Aufſicht ei- nes Fremden. Sie unterrichtete in der Folge die kleine Wilhelmine im Naͤhen und Stricken, im Leſen und Schreiben, auch in der Religion, und in dieſer letztern ſo aͤcht und rein, daß der ſtreng- ſte Theolog nichts dagegen einwenden konnte, und doch war und blieb ſie wahnſinnig. Wilhelm erſchien jetzt jeden Morgen wieder re- gelmaͤßig am Fenſter ſeines Lottchens, ſie erwartete ihn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/110
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/110>, abgerufen am 25.04.2024.