Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

fährlich krank sei, und ganz gewiß sterben werde.
Sie hörte diese Trauerpost ruhig an, und äusserte
am Ende die größte Freude darüber. Dein Vater,
sprach sie zu Wilhelminen, wird nächstens zu uns
kommen, und bei uns wohnen, wir müssen uns
auf seinen Empfang vorbereiten. Sie war nun
äusserst geschäftig, putzte sich und ihr Kind auf's
schönste, räumte alles im Zimmer auf, und ließ
wider ihre Gewohnheit die Thüre desselben offen.
Diese Vorbereitung gab Hofnung zum glücklich-
sten Erfolge, der darüber entzückte und ungedul-
dige Wilhelm starb noch am nemlichen Abende,
und der Pfarrer benachrichtigte sie davon. So
kann ich ihn also mit jedem Augenblicke erwarten,
sprach sie frohlockend, und trat an's Fenster.
Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Gesinnungen,
er trat, wie's verabredet war, in einem weissen
Kleide aus dem Pfarrhofe, und näherte sich der
Schule. Lottchen äusserte bei seinem Anblicke die
größte Freude, wie er aber näher kam, ward sie
unruhig, und schrie erbärmlich, als er den ge-
wöhnlichen Platz überschreiten wollte. Es ist
schändlicher Betrug, schrie sie, er lebt noch, er
ist nicht todt, er hat noch seinen Körper wie vor-
her! Vergebens mühte sich der Pfarrer, sie eines
andern zu überreden, er bewieß, daß sie auch noch
einen Körper habe, und doch im Himmel wohne,
aber sie behauptete das Gegentheil, und suchte
zu beweisen, daß seine blöden, irrdischen Augen
so etwas nicht unterscheiden könnten. Er durfte

faͤhrlich krank ſei, und ganz gewiß ſterben werde.
Sie hoͤrte dieſe Trauerpoſt ruhig an, und aͤuſſerte
am Ende die groͤßte Freude daruͤber. Dein Vater,
ſprach ſie zu Wilhelminen, wird naͤchſtens zu uns
kommen, und bei uns wohnen, wir muͤſſen uns
auf ſeinen Empfang vorbereiten. Sie war nun
aͤuſſerſt geſchaͤftig, putzte ſich und ihr Kind auf's
ſchoͤnſte, raͤumte alles im Zimmer auf, und ließ
wider ihre Gewohnheit die Thuͤre deſſelben offen.
Dieſe Vorbereitung gab Hofnung zum gluͤcklich-
ſten Erfolge, der daruͤber entzuͤckte und ungedul-
dige Wilhelm ſtarb noch am nemlichen Abende,
und der Pfarrer benachrichtigte ſie davon. So
kann ich ihn alſo mit jedem Augenblicke erwarten,
ſprach ſie frohlockend, und trat an's Fenſter.
Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Geſinnungen,
er trat, wie's verabredet war, in einem weiſſen
Kleide aus dem Pfarrhofe, und naͤherte ſich der
Schule. Lottchen aͤuſſerte bei ſeinem Anblicke die
groͤßte Freude, wie er aber naͤher kam, ward ſie
unruhig, und ſchrie erbaͤrmlich, als er den ge-
woͤhnlichen Platz uͤberſchreiten wollte. Es iſt
ſchaͤndlicher Betrug, ſchrie ſie, er lebt noch, er
iſt nicht todt, er hat noch ſeinen Koͤrper wie vor-
her! Vergebens muͤhte ſich der Pfarrer, ſie eines
andern zu uͤberreden, er bewieß, daß ſie auch noch
einen Koͤrper habe, und doch im Himmel wohne,
aber ſie behauptete das Gegentheil, und ſuchte
zu beweiſen, daß ſeine bloͤden, irrdiſchen Augen
ſo etwas nicht unterſcheiden koͤnnten. Er durfte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="95"/>
fa&#x0364;hrlich krank &#x017F;ei, und ganz gewiß                     &#x017F;terben werde.<lb/>
Sie ho&#x0364;rte die&#x017F;e Trauerpo&#x017F;t ruhig an, und a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erte<lb/>
am                     Ende die gro&#x0364;ßte Freude daru&#x0364;ber. Dein Vater,<lb/>
&#x017F;prach &#x017F;ie zu Wilhelminen,                     wird na&#x0364;ch&#x017F;tens zu uns<lb/>
kommen, und bei uns wohnen, wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en uns<lb/>
auf                     &#x017F;einen Empfang vorbereiten. Sie war nun<lb/>
a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;t ge&#x017F;cha&#x0364;ftig, putzte &#x017F;ich                     und ihr Kind auf's<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te, ra&#x0364;umte alles im Zimmer auf, und                     ließ<lb/>
wider ihre Gewohnheit die Thu&#x0364;re de&#x017F;&#x017F;elben offen.<lb/>
Die&#x017F;e                     Vorbereitung gab Hofnung zum glu&#x0364;cklich-<lb/>
&#x017F;ten Erfolge, der daru&#x0364;ber                     entzu&#x0364;ckte und ungedul-<lb/>
dige Wilhelm &#x017F;tarb noch am nemlichen Abende,<lb/>
und                     der Pfarrer benachrichtigte &#x017F;ie davon. So<lb/>
kann ich ihn al&#x017F;o mit jedem                     Augenblicke erwarten,<lb/>
&#x017F;prach &#x017F;ie frohlockend, und trat an's                     Fen&#x017F;ter.<lb/>
Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Ge&#x017F;innungen,<lb/>
er trat, wie's                     verabredet war, in einem wei&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Kleide aus dem Pfarrhofe, und na&#x0364;herte &#x017F;ich                     der<lb/>
Schule. Lottchen a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erte bei &#x017F;einem Anblicke die<lb/>
gro&#x0364;ßte Freude,                     wie er aber na&#x0364;her kam, ward &#x017F;ie<lb/>
unruhig, und &#x017F;chrie erba&#x0364;rmlich, als er den                     ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlichen Platz u&#x0364;ber&#x017F;chreiten wollte. Es i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ndlicher                     Betrug, &#x017F;chrie &#x017F;ie, er lebt noch, er<lb/>
i&#x017F;t nicht todt, er hat noch &#x017F;einen                     Ko&#x0364;rper wie vor-<lb/>
her! Vergebens mu&#x0364;hte &#x017F;ich der Pfarrer, &#x017F;ie                     eines<lb/>
andern zu u&#x0364;berreden, er bewieß, daß &#x017F;ie auch noch<lb/>
einen Ko&#x0364;rper                     habe, und doch im Himmel wohne,<lb/>
aber &#x017F;ie behauptete das Gegentheil, und                     &#x017F;uchte<lb/>
zu bewei&#x017F;en, daß &#x017F;eine blo&#x0364;den, irrdi&#x017F;chen Augen<lb/>
&#x017F;o etwas nicht                     unter&#x017F;cheiden ko&#x0364;nnten. Er durfte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0109] faͤhrlich krank ſei, und ganz gewiß ſterben werde. Sie hoͤrte dieſe Trauerpoſt ruhig an, und aͤuſſerte am Ende die groͤßte Freude daruͤber. Dein Vater, ſprach ſie zu Wilhelminen, wird naͤchſtens zu uns kommen, und bei uns wohnen, wir muͤſſen uns auf ſeinen Empfang vorbereiten. Sie war nun aͤuſſerſt geſchaͤftig, putzte ſich und ihr Kind auf's ſchoͤnſte, raͤumte alles im Zimmer auf, und ließ wider ihre Gewohnheit die Thuͤre deſſelben offen. Dieſe Vorbereitung gab Hofnung zum gluͤcklich- ſten Erfolge, der daruͤber entzuͤckte und ungedul- dige Wilhelm ſtarb noch am nemlichen Abende, und der Pfarrer benachrichtigte ſie davon. So kann ich ihn alſo mit jedem Augenblicke erwarten, ſprach ſie frohlockend, und trat an's Fenſter. Wilhelm erhielt Nachricht von ihren Geſinnungen, er trat, wie's verabredet war, in einem weiſſen Kleide aus dem Pfarrhofe, und naͤherte ſich der Schule. Lottchen aͤuſſerte bei ſeinem Anblicke die groͤßte Freude, wie er aber naͤher kam, ward ſie unruhig, und ſchrie erbaͤrmlich, als er den ge- woͤhnlichen Platz uͤberſchreiten wollte. Es iſt ſchaͤndlicher Betrug, ſchrie ſie, er lebt noch, er iſt nicht todt, er hat noch ſeinen Koͤrper wie vor- her! Vergebens muͤhte ſich der Pfarrer, ſie eines andern zu uͤberreden, er bewieß, daß ſie auch noch einen Koͤrper habe, und doch im Himmel wohne, aber ſie behauptete das Gegentheil, und ſuchte zu beweiſen, daß ſeine bloͤden, irrdiſchen Augen ſo etwas nicht unterſcheiden koͤnnten. Er durfte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/109
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/109>, abgerufen am 24.11.2024.