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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte
nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬
statt nach Hamburg schicke, da er so viel öfter Gele¬
genheit hatte, seine Tochter zu sehen, und er über¬
haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬
visorium hielt, dessen vermuthlich sehr kurze Dauer
die lange Reise nach Hamburg gar nicht verlohne. --
Anna-Maria ihrerseits mußte sich nothgedrungen mit
diesem Resultate zufrieden geben, um so mehr, als
sie fürchten mußte, daß Helene, wenn man sie zum
Aeußersten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem
Briefe zur Sprache bringen werde. Dieser Gedanke
hatte sie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger
energisch erscheinen lassen, als wol sonst ihre Gewohn¬
heit war. Das böse Gewissen hatte sie feig gemacht
und diese Feigheit dem Baron seinen Sieg wesentlich
erleichtert. Er küßte seine Gemahlin auf die Stirn,
wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer
Uneinigkeit stets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre
Bereitwilligkeit, sich seinen Ansichten und Wünschen
zu accommodiren, und sprach die Hoffnung aus, daß
in kurzer Zeit der gestörte Familienfrieden vollkommen
wieder hergestellt sein werde.

"Es drückt mir das Herz ab, wenn ich sehe, daß
die, welche ich am meisten liebe auf Erden, unter sich

Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte
nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬
ſtatt nach Hamburg ſchicke, da er ſo viel öfter Gele¬
genheit hatte, ſeine Tochter zu ſehen, und er über¬
haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬
viſorium hielt, deſſen vermuthlich ſehr kurze Dauer
die lange Reiſe nach Hamburg gar nicht verlohne. —
Anna-Maria ihrerſeits mußte ſich nothgedrungen mit
dieſem Reſultate zufrieden geben, um ſo mehr, als
ſie fürchten mußte, daß Helene, wenn man ſie zum
Aeußerſten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem
Briefe zur Sprache bringen werde. Dieſer Gedanke
hatte ſie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger
energiſch erſcheinen laſſen, als wol ſonſt ihre Gewohn¬
heit war. Das böſe Gewiſſen hatte ſie feig gemacht
und dieſe Feigheit dem Baron ſeinen Sieg weſentlich
erleichtert. Er küßte ſeine Gemahlin auf die Stirn,
wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer
Uneinigkeit ſtets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre
Bereitwilligkeit, ſich ſeinen Anſichten und Wünſchen
zu accommodiren, und ſprach die Hoffnung aus, daß
in kurzer Zeit der geſtörte Familienfrieden vollkommen
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[220/0230] Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬ ſtatt nach Hamburg ſchicke, da er ſo viel öfter Gele¬ genheit hatte, ſeine Tochter zu ſehen, und er über¬ haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬ viſorium hielt, deſſen vermuthlich ſehr kurze Dauer die lange Reiſe nach Hamburg gar nicht verlohne. — Anna-Maria ihrerſeits mußte ſich nothgedrungen mit dieſem Reſultate zufrieden geben, um ſo mehr, als ſie fürchten mußte, daß Helene, wenn man ſie zum Aeußerſten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem Briefe zur Sprache bringen werde. Dieſer Gedanke hatte ſie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger energiſch erſcheinen laſſen, als wol ſonſt ihre Gewohn¬ heit war. Das böſe Gewiſſen hatte ſie feig gemacht und dieſe Feigheit dem Baron ſeinen Sieg weſentlich erleichtert. Er küßte ſeine Gemahlin auf die Stirn, wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer Uneinigkeit ſtets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre Bereitwilligkeit, ſich ſeinen Anſichten und Wünſchen zu accommodiren, und ſprach die Hoffnung aus, daß in kurzer Zeit der geſtörte Familienfrieden vollkommen wieder hergeſtellt ſein werde. „Es drückt mir das Herz ab, wenn ich ſehe, daß die, welche ich am meiſten liebe auf Erden, unter ſich

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/230>, abgerufen am 24.05.2024.