Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

sich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬
gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für
Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu
sein pflegt, und daß bei so mächtigen Naturen, wie
Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger sein
müsse. Er hatte oft mit Bruno über Verhältnisse
gesprochen, die dem erschlossenen Auge nicht länger
verborgen bleiben können, denn er hielt es für die
heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in diesem Punkte
der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfsinn
des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür
zum Heiligthum der Natur lieber zu erschließen, als
zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur
Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel
und sein Herz rein war "wie das Herz der Wasser".
Er war nach dieser Seite hin vollkommen ruhig; er
ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war,
mit allen Kräften seiner starken Seele, mit der ganzen
Gluth der eben erst erwachten Sinnlichkeit, mit der
namenlosen Seligkeit einer ersten Neigung, mit der
stummen Verzweiflung einer Leidenschaft, die keine Er¬
wiederung findet und finden kann, seine schöne Cousine
liebte.

Er hatte Helenen nie vorher gesehen. Als er vor
drei Jahren etwa in das Haus seiner Verwandten

ſich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬
gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für
Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu
ſein pflegt, und daß bei ſo mächtigen Naturen, wie
Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger ſein
müſſe. Er hatte oft mit Bruno über Verhältniſſe
geſprochen, die dem erſchloſſenen Auge nicht länger
verborgen bleiben können, denn er hielt es für die
heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in dieſem Punkte
der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfſinn
des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür
zum Heiligthum der Natur lieber zu erſchließen, als
zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur
Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel
und ſein Herz rein war „wie das Herz der Waſſer“.
Er war nach dieſer Seite hin vollkommen ruhig; er
ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war,
mit allen Kräften ſeiner ſtarken Seele, mit der ganzen
Gluth der eben erſt erwachten Sinnlichkeit, mit der
namenloſen Seligkeit einer erſten Neigung, mit der
ſtummen Verzweiflung einer Leidenſchaft, die keine Er¬
wiederung findet und finden kann, ſeine ſchöne Couſine
liebte.

Er hatte Helenen nie vorher geſehen. Als er vor
drei Jahren etwa in das Haus ſeiner Verwandten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0186" n="176"/>
&#x017F;ich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬<lb/>
gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für<lb/>
Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu<lb/>
&#x017F;ein pflegt, und daß bei &#x017F;o mächtigen Naturen, wie<lb/>
Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger &#x017F;ein<lb/>&#x017F;&#x017F;e. Er hatte oft mit Bruno über Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
ge&#x017F;prochen, die dem er&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Auge nicht länger<lb/>
verborgen bleiben können, denn er hielt es für die<lb/>
heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in die&#x017F;em Punkte<lb/>
der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharf&#x017F;inn<lb/>
des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür<lb/>
zum Heiligthum der Natur lieber zu er&#x017F;chließen, als<lb/>
zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur<lb/>
Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel<lb/>
und &#x017F;ein Herz rein war &#x201E;wie das Herz der Wa&#x017F;&#x017F;er&#x201C;.<lb/>
Er war nach die&#x017F;er Seite hin vollkommen ruhig; er<lb/>
ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war,<lb/>
mit allen Kräften &#x017F;einer &#x017F;tarken Seele, mit der ganzen<lb/>
Gluth der eben er&#x017F;t erwachten Sinnlichkeit, mit der<lb/>
namenlo&#x017F;en Seligkeit einer er&#x017F;ten Neigung, mit der<lb/>
&#x017F;tummen Verzweiflung einer Leiden&#x017F;chaft, die keine Er¬<lb/>
wiederung findet und finden kann, &#x017F;eine &#x017F;chöne Cou&#x017F;ine<lb/>
liebte.</p><lb/>
        <p>Er hatte Helenen nie vorher ge&#x017F;ehen. Als er vor<lb/>
drei Jahren etwa in das Haus &#x017F;einer Verwandten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0186] ſich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬ gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu ſein pflegt, und daß bei ſo mächtigen Naturen, wie Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger ſein müſſe. Er hatte oft mit Bruno über Verhältniſſe geſprochen, die dem erſchloſſenen Auge nicht länger verborgen bleiben können, denn er hielt es für die heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in dieſem Punkte der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfſinn des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür zum Heiligthum der Natur lieber zu erſchließen, als zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel und ſein Herz rein war „wie das Herz der Waſſer“. Er war nach dieſer Seite hin vollkommen ruhig; er ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war, mit allen Kräften ſeiner ſtarken Seele, mit der ganzen Gluth der eben erſt erwachten Sinnlichkeit, mit der namenloſen Seligkeit einer erſten Neigung, mit der ſtummen Verzweiflung einer Leidenſchaft, die keine Er¬ wiederung findet und finden kann, ſeine ſchöne Couſine liebte. Er hatte Helenen nie vorher geſehen. Als er vor drei Jahren etwa in das Haus ſeiner Verwandten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/186
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/186>, abgerufen am 16.07.2024.