wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimnisses, das der Knabe in der tiefsten Tiefe seines Herzens vor Jedem, vielleicht vor sich selbst, scheu verbarg, entdeckte er doch nicht. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß selbst kluge Men¬ schen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬ rade am nächsten stehen, oft die wunderlichsten Fehl¬ schlüsse machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬ fangenen, vielleicht lange nicht so scharfsichtigen Auge des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind sind. Das ist nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬ zählt, daß sein Sohn einen schlechten Streich begangen hat; das ist nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn man ihm mittheilt, daß seine Schwester sich mit sei¬ nem besten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in diesen Verhältnissen die Liebe, bald die Abneigung blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder, welches unter unsern Augen vor sich geht, dort eine edle Scham, welche uns den Blick niederschlagen macht, eine Wange nicht zu sehen, die ihr Erröthen sonst nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, und in den aller¬ meisten Fällen ist das Herz des Bruders dem Bruder ein Buch mit sieben Siegeln.
So war es auch in diesem Fall. Oswald tröstete
wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht. Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬ ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬ rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬ ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬ fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬ zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬ nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder, welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬ meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder ein Buch mit ſieben Siegeln.
So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete
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wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den
eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in
der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht
vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht.
Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬
ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬
rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬
ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬
fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge
des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das
iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬
zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen
hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn
man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬
nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in
dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung
blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder,
welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine
edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen
macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen
ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet
gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬
meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder
ein Buch mit ſieben Siegeln.
So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/185>, abgerufen am 21.11.2024.
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