Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

kam, war das junge Mädchen schon in der Pension.
Es wurde selten in der Familie von ihr gesprochen,
und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der
Umstand, daß, wenn man von ihr sprach, es meistens
in sehr kühlen Ausdrücken geschah, Bruno's Aufmerk¬
samkeit. Mit jenem sympathetischen Gefühl, welches
der Arme für den Armen, der Verlassene für den
Verlassenen, der Verstoßene für den Verstoßenen hat,
ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach
gestaltete sich für ihn das sehr undeutliche Bild der
Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff
von allem Schönen und Herrlichen, das seine reiche
Phantasie erträumte. Der Name Helene, in dessen
weichem Klang er sich berauschen konnte, wie in dem
Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm
diese Gestalt seiner Einbildungskraft lieb und theuer
zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo
er dem Cultus der schönen Unbekannten untreu ge¬
worden war, wo er in Tante Berkow den höchsten,
vollendetsten Ausdruck des "ewig Weiblichen", das ihn,
wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderstehlich
anzog, zu erkennen glaubte, wo er sich durch ein
freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge!
für ein Streicheln seiner Haare von ihrer lieben
weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr gestürzt

F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV. 12

kam, war das junge Mädchen ſchon in der Penſion.
Es wurde ſelten in der Familie von ihr geſprochen,
und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der
Umſtand, daß, wenn man von ihr ſprach, es meiſtens
in ſehr kühlen Ausdrücken geſchah, Bruno's Aufmerk¬
ſamkeit. Mit jenem ſympathetiſchen Gefühl, welches
der Arme für den Armen, der Verlaſſene für den
Verlaſſenen, der Verſtoßene für den Verſtoßenen hat,
ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach
geſtaltete ſich für ihn das ſehr undeutliche Bild der
Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff
von allem Schönen und Herrlichen, das ſeine reiche
Phantaſie erträumte. Der Name Helene, in deſſen
weichem Klang er ſich berauſchen konnte, wie in dem
Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm
dieſe Geſtalt ſeiner Einbildungskraft lieb und theuer
zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo
er dem Cultus der ſchönen Unbekannten untreu ge¬
worden war, wo er in Tante Berkow den höchſten,
vollendetſten Ausdruck des „ewig Weiblichen“, das ihn,
wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderſtehlich
anzog, zu erkennen glaubte, wo er ſich durch ein
freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge!
für ein Streicheln ſeiner Haare von ihrer lieben
weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr geſtürzt

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0187" n="177"/>
kam, war das junge Mädchen &#x017F;chon in der Pen&#x017F;ion.<lb/>
Es wurde &#x017F;elten in der Familie von ihr ge&#x017F;prochen,<lb/>
und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der<lb/>
Um&#x017F;tand, daß, wenn man von ihr &#x017F;prach, es mei&#x017F;tens<lb/>
in &#x017F;ehr kühlen Ausdrücken ge&#x017F;chah, Bruno's Aufmerk¬<lb/>
&#x017F;amkeit. Mit jenem &#x017F;ympatheti&#x017F;chen Gefühl, welches<lb/>
der Arme für den Armen, der Verla&#x017F;&#x017F;ene für den<lb/>
Verla&#x017F;&#x017F;enen, der Ver&#x017F;toßene für den Ver&#x017F;toßenen hat,<lb/>
ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach<lb/>
ge&#x017F;taltete &#x017F;ich für ihn das &#x017F;ehr undeutliche Bild der<lb/>
Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff<lb/>
von allem Schönen und Herrlichen, das &#x017F;eine reiche<lb/>
Phanta&#x017F;ie erträumte. Der Name Helene, in de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
weichem Klang er &#x017F;ich berau&#x017F;chen konnte, wie in dem<lb/>
Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm<lb/>
die&#x017F;e Ge&#x017F;talt &#x017F;einer Einbildungskraft lieb und theuer<lb/>
zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo<lb/>
er dem Cultus der &#x017F;chönen Unbekannten untreu ge¬<lb/>
worden war, wo er in Tante Berkow den höch&#x017F;ten,<lb/>
vollendet&#x017F;ten Ausdruck des &#x201E;ewig Weiblichen&#x201C;, das ihn,<lb/>
wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwider&#x017F;tehlich<lb/>
anzog, zu erkennen glaubte, wo er &#x017F;ich durch ein<lb/>
freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge!<lb/>
für ein Streicheln &#x017F;einer Haare von ihrer lieben<lb/>
weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr ge&#x017F;türzt<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F. Spielhagen, Problemati&#x017F;che Naturen. <hi rendition="#aq">IV</hi>. 12<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0187] kam, war das junge Mädchen ſchon in der Penſion. Es wurde ſelten in der Familie von ihr geſprochen, und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der Umſtand, daß, wenn man von ihr ſprach, es meiſtens in ſehr kühlen Ausdrücken geſchah, Bruno's Aufmerk¬ ſamkeit. Mit jenem ſympathetiſchen Gefühl, welches der Arme für den Armen, der Verlaſſene für den Verlaſſenen, der Verſtoßene für den Verſtoßenen hat, ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach geſtaltete ſich für ihn das ſehr undeutliche Bild der Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff von allem Schönen und Herrlichen, das ſeine reiche Phantaſie erträumte. Der Name Helene, in deſſen weichem Klang er ſich berauſchen konnte, wie in dem Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm dieſe Geſtalt ſeiner Einbildungskraft lieb und theuer zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo er dem Cultus der ſchönen Unbekannten untreu ge¬ worden war, wo er in Tante Berkow den höchſten, vollendetſten Ausdruck des „ewig Weiblichen“, das ihn, wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderſtehlich anzog, zu erkennen glaubte, wo er ſich durch ein freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge! für ein Streicheln ſeiner Haare von ihrer lieben weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr geſtürzt F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 12

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/187
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/187>, abgerufen am 22.12.2024.