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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenstrahl sich
hineinstehlen konnte. Der Boden war mit dichtem
Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwischen den um¬
hergestreuten Steinfliesen; die weitklaffenden Spalten
des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu
übersponnen; hier und da ragte ein hoher blühender
Busch aus den Ruinen. Auf dem morschen Kreuz in
einer der leeren Fensternischen saß ein Vögelchen und
sang. Das war der einzige Laut, den man vernahm.
Er schien die Stille rings umher nur noch stiller zu
machen.

Einen Liebhaber der Einsamkeit würde der Platz
entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬
mal die Augen vom Boden, sich flüchtig umzusehen,
Sie hatte überhaupt sehr wenig Sinn für Sonnen¬
strahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für
blaue Schatten und andere Requisiten landschaftlicher
Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geist von
ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Sie
setzte sich auf eine Steinbank unmittelbar unter der
leeren Fensternische, in welcher das Vögelchen sang,
nahm aus der Tasche ihres Kleides einen Brief und
begann denselben noch einmal zu lesen.

Es war der Brief, den Helene heute Morgen in
dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, sie

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breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenſtrahl ſich
hineinſtehlen konnte. Der Boden war mit dichtem
Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwiſchen den um¬
hergeſtreuten Steinflieſen; die weitklaffenden Spalten
des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu
überſponnen; hier und da ragte ein hoher blühender
Buſch aus den Ruinen. Auf dem morſchen Kreuz in
einer der leeren Fenſterniſchen ſaß ein Vögelchen und
ſang. Das war der einzige Laut, den man vernahm.
Er ſchien die Stille rings umher nur noch ſtiller zu
machen.

Einen Liebhaber der Einſamkeit würde der Platz
entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬
mal die Augen vom Boden, ſich flüchtig umzuſehen,
Sie hatte überhaupt ſehr wenig Sinn für Sonnen¬
ſtrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für
blaue Schatten und andere Requiſiten landſchaftlicher
Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geiſt von
ganz anderen Dingen in Anſpruch genommen. Sie
ſetzte ſich auf eine Steinbank unmittelbar unter der
leeren Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſang,
nahm aus der Taſche ihres Kleides einen Brief und
begann denſelben noch einmal zu leſen.

Es war der Brief, den Helene heute Morgen in
dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, ſie

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[131/0141] breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenſtrahl ſich hineinſtehlen konnte. Der Boden war mit dichtem Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwiſchen den um¬ hergeſtreuten Steinflieſen; die weitklaffenden Spalten des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu überſponnen; hier und da ragte ein hoher blühender Buſch aus den Ruinen. Auf dem morſchen Kreuz in einer der leeren Fenſterniſchen ſaß ein Vögelchen und ſang. Das war der einzige Laut, den man vernahm. Er ſchien die Stille rings umher nur noch ſtiller zu machen. Einen Liebhaber der Einſamkeit würde der Platz entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬ mal die Augen vom Boden, ſich flüchtig umzuſehen, Sie hatte überhaupt ſehr wenig Sinn für Sonnen¬ ſtrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für blaue Schatten und andere Requiſiten landſchaftlicher Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geiſt von ganz anderen Dingen in Anſpruch genommen. Sie ſetzte ſich auf eine Steinbank unmittelbar unter der leeren Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſang, nahm aus der Taſche ihres Kleides einen Brief und begann denſelben noch einmal zu leſen. Es war der Brief, den Helene heute Morgen in dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, ſie 9*

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/141>, abgerufen am 22.12.2024.