einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬ steigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich spreche. Ich will Dir nicht verschweigen, daß ich in letzterer Zeit an diesem Manne ein Interesse gewonnen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte -- ein Be¬ kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unseres Covenants, schuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich ist. Er steht, wie Du, allein, ganz allein da in der Welt; seine Mutter hat er kaum gekannt, seinen Vater schon vor Jahren verloren, Brüder und Schwestern nie gehabt. Er ist noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth auf seiner hohen Stirn, in seinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es so schmerzlich um seinen Mund, daß ich viel, sehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und sprechen: sage mir, was Dich quält; vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Du weißt, theure Mary, daß ich durch und durch Aristokratin bin, daß ich einen angebornen Widerwillen vor allem
einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬ ſteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich ſpreche. Ich will Dir nicht verſchweigen, daß ich in letzterer Zeit an dieſem Manne ein Intereſſe gewonnen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte — ein Be¬ kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unſeres Covenants, ſchuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich iſt. Er ſteht, wie Du, allein, ganz allein da in der Welt; ſeine Mutter hat er kaum gekannt, ſeinen Vater ſchon vor Jahren verloren, Brüder und Schweſtern nie gehabt. Er iſt noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth auf ſeiner hohen Stirn, in ſeinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es ſo ſchmerzlich um ſeinen Mund, daß ich viel, ſehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und ſprechen: ſage mir, was Dich quält; vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Du weißt, theure Mary, daß ich durch und durch Ariſtokratin bin, daß ich einen angebornen Widerwillen vor allem
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einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein
Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬
ſteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich ſpreche.
Ich will Dir nicht verſchweigen, daß ich in letzterer
Zeit an dieſem Manne ein Intereſſe gewonnen habe,
das ich nie für möglich gehalten hätte — ein Be¬
kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird
und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unſeres
Covenants, ſchuldig bin. Vielleicht fühle ich mich
nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich
iſt. Er ſteht, wie Du, allein, ganz allein da in der
Welt; ſeine Mutter hat er kaum gekannt, ſeinen Vater
ſchon vor Jahren verloren, Brüder und Schweſtern
nie gehabt. Er iſt noch jung, aber reiche Herzen
erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt
und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth
auf ſeiner hohen Stirn, in ſeinen tiefblauen großen
Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat;
manchmal zuckt es ſo ſchmerzlich um ſeinen Mund,
daß ich viel, ſehr viel darum geben könnte, dürfte ich
zu ihm treten und ſprechen: ſage mir, was Dich quält;
vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/136>, abgerufen am 22.12.2024.
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