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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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sie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den
stolzen Lippen entgegen, sobald der leuchtende Som¬
mermorgen die kurze und doch für ihn so lange Nacht
verdrängt hatte; saß er ihr doch bei Tische gegenüber;
brachten die Unterrichtsstunden, gemeinsame Spazier¬
gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem so
kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich
sind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen
in Berührung! Er selbst nannte seine Leidenschaft
nicht Liebe, sondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬
schaft -- er suchte sich einzureden, daß er diese Theil¬
nahme, diese Freundschaft ganz ebenso empfunden
haben würde, wenn sein Verhältniß zu Melitta das¬
selbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's
Bild in einem so ganz anderen Lichte gezeigt hätte.
Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge,
dem trügerischen Zufall zum Herrn zu machen über
das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem so heiß
geliebten Weibes; daß seine prahlenden Vernunft¬
gründe nur schlaue Sophismen einer wilden Leiden¬
schaft seien -- Oswald wäre der Erste gewesen, dies
in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen,
aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬
urtheilung fremder Angelegenheiten stets bereit haben,
fehlen uns nur zu oft in unseren eigenen; und weise

ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den
ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬
mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht
verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber;
brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬
gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo
kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich
ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen
in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft
nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬
ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬
nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden
haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬
ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's
Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte.
Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge,
dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über
das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß
geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬
gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬
ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies
in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen,
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[119/0129] ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬ mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber; brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬ gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬ ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬ nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬ ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte. Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge, dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬ gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬ ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen, aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬ urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben, fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/129>, abgerufen am 03.05.2024.