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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches
nicht ganz reines Herzens ist, zu bestricken?

Und wie gut stand ihm sein Weltschmerz und die
Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte,
nicht glauben, er werde nächstens in die Wüste gehen
und sich von Heuschrecken nähren? Jetzt wird er die
Zigeunerin mit sich auf seine Solitüde nehmen, damit
die Einsamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬
niger einsam sei. . . .

So wühlte sich Oswald geflissentlich tief und tiefer
in die bittersten Empfindungen hinein. Die neue
Leidenschaft, die in seinem Herzen zehrte, machte ihn
taub und blind gegen die Stimme seines Gewissens,
gegen die augenscheinlichsten Beweise von der Falsch¬
heit seiner gehässigen Vermuthungen. Er hatte ein
dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬
gehetzt und müde, wie unfähig, über sich selbst zur
Klarheit zu kommen. Er wäre am liebsten gestorben,
um all dem Wirrsal zu entfliehen, wie ein Schwim¬
mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlassen,
und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn ist, sich
in den Abgrund sinken läßt. Er drückte das Gesicht
in seine Hände, um nichts mehr zu sehen und zu
hören. . .

Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, riß

und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches
nicht ganz reines Herzens iſt, zu beſtricken?

Und wie gut ſtand ihm ſein Weltſchmerz und die
Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte,
nicht glauben, er werde nächſtens in die Wüſte gehen
und ſich von Heuſchrecken nähren? Jetzt wird er die
Zigeunerin mit ſich auf ſeine Solitüde nehmen, damit
die Einſamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬
niger einſam ſei. . . .

So wühlte ſich Oswald gefliſſentlich tief und tiefer
in die bitterſten Empfindungen hinein. Die neue
Leidenſchaft, die in ſeinem Herzen zehrte, machte ihn
taub und blind gegen die Stimme ſeines Gewiſſens,
gegen die augenſcheinlichſten Beweiſe von der Falſch¬
heit ſeiner gehäſſigen Vermuthungen. Er hatte ein
dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬
gehetzt und müde, wie unfähig, über ſich ſelbſt zur
Klarheit zu kommen. Er wäre am liebſten geſtorben,
um all dem Wirrſal zu entfliehen, wie ein Schwim¬
mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlaſſen,
und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn iſt, ſich
in den Abgrund ſinken läßt. Er drückte das Geſicht
in ſeine Hände, um nichts mehr zu ſehen und zu
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Eine Hand, die ſich auf ſeine Schulter legte, riß

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[101/0111] und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches nicht ganz reines Herzens iſt, zu beſtricken? Und wie gut ſtand ihm ſein Weltſchmerz und die Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte, nicht glauben, er werde nächſtens in die Wüſte gehen und ſich von Heuſchrecken nähren? Jetzt wird er die Zigeunerin mit ſich auf ſeine Solitüde nehmen, damit die Einſamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬ niger einſam ſei. . . . So wühlte ſich Oswald gefliſſentlich tief und tiefer in die bitterſten Empfindungen hinein. Die neue Leidenſchaft, die in ſeinem Herzen zehrte, machte ihn taub und blind gegen die Stimme ſeines Gewiſſens, gegen die augenſcheinlichſten Beweiſe von der Falſch¬ heit ſeiner gehäſſigen Vermuthungen. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬ gehetzt und müde, wie unfähig, über ſich ſelbſt zur Klarheit zu kommen. Er wäre am liebſten geſtorben, um all dem Wirrſal zu entfliehen, wie ein Schwim¬ mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlaſſen, und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn iſt, ſich in den Abgrund ſinken läßt. Er drückte das Geſicht in ſeine Hände, um nichts mehr zu ſehen und zu hören. . . Eine Hand, die ſich auf ſeine Schulter legte, riß

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/111>, abgerufen am 04.05.2024.