Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

Auch der alte Baron war auf das Angenehmste
überrascht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬
samen Zuhörer der langen Geschichte seiner kleinen
Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn stets mit
vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer
für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann
gehalten, trotz des entschiedenen Widerspruchs seiner
Anna-Maria und der mindestens zweifelhaften Zu¬
stimmung des Pastors Jäger; und er war ordentlich
froh, daß er dieser Gesinnung heute, wo auch die Ba¬
ronin sie zu theilen schien, endlich einmal einen Aus¬
druck geben konnte. Ueberhaupt schien die Reise einen
sehr günstigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu
haben. Mademoiselle Marguerite, der man in dieser
Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete
gegen Albert, "sie ist verändert totalement, sie hat
mich nicht gescholten ein einziges Mal den ganzen
Tag;" worauf der sinnige Albert erwiederte: "ja, ich
finde selbst, der alte Drache ist heute beinahe genie߬
bar." Mit einem Worte, es herrschte heute ein so
gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Gesellschaft
auf Schloß Grenwitz. Jeder schien die Gründe, die
er hatte, mit Diesem oder Jenem weniger zufrieden
zu sein, vergessen oder doch in den Hintergrund ge¬
schoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend

F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 10

Auch der alte Baron war auf das Angenehmſte
überraſcht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬
ſamen Zuhörer der langen Geſchichte ſeiner kleinen
Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn ſtets mit
vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer
für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann
gehalten, trotz des entſchiedenen Widerſpruchs ſeiner
Anna-Maria und der mindeſtens zweifelhaften Zu¬
ſtimmung des Paſtors Jäger; und er war ordentlich
froh, daß er dieſer Geſinnung heute, wo auch die Ba¬
ronin ſie zu theilen ſchien, endlich einmal einen Aus¬
druck geben konnte. Ueberhaupt ſchien die Reiſe einen
ſehr günſtigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu
haben. Mademoiſelle Marguerite, der man in dieſer
Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete
gegen Albert, „ſie iſt verändert totalement, ſie hat
mich nicht geſcholten ein einziges Mal den ganzen
Tag;“ worauf der ſinnige Albert erwiederte: „ja, ich
finde ſelbſt, der alte Drache iſt heute beinahe genie߬
bar.“ Mit einem Worte, es herrſchte heute ein ſo
gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Geſellſchaft
auf Schloß Grenwitz. Jeder ſchien die Gründe, die
er hatte, mit Dieſem oder Jenem weniger zufrieden
zu ſein, vergeſſen oder doch in den Hintergrund ge¬
ſchoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0155" n="145"/>
        <p>Auch der alte Baron war auf das Angenehm&#x017F;te<lb/>
überra&#x017F;cht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬<lb/>
&#x017F;amen Zuhörer der langen Ge&#x017F;chichte &#x017F;einer kleinen<lb/>
Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn &#x017F;tets mit<lb/>
vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer<lb/>
für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann<lb/>
gehalten, trotz des ent&#x017F;chiedenen Wider&#x017F;pruchs &#x017F;einer<lb/>
Anna-Maria und der minde&#x017F;tens zweifelhaften Zu¬<lb/>
&#x017F;timmung des Pa&#x017F;tors Jäger; und er war ordentlich<lb/>
froh, daß er die&#x017F;er Ge&#x017F;innung heute, wo auch die Ba¬<lb/>
ronin &#x017F;ie zu theilen &#x017F;chien, endlich einmal einen Aus¬<lb/>
druck geben konnte. Ueberhaupt &#x017F;chien die Rei&#x017F;e einen<lb/>
&#x017F;ehr gün&#x017F;tigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu<lb/>
haben. Mademoi&#x017F;elle Marguerite, der man in die&#x017F;er<lb/>
Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete<lb/>
gegen Albert, &#x201E;&#x017F;ie i&#x017F;t verändert <hi rendition="#aq">totalement</hi>, &#x017F;ie hat<lb/>
mich nicht ge&#x017F;cholten ein einziges Mal den ganzen<lb/>
Tag;&#x201C; worauf der &#x017F;innige Albert erwiederte: &#x201E;ja, ich<lb/>
finde &#x017F;elb&#x017F;t, der alte Drache i&#x017F;t heute beinahe genie߬<lb/>
bar.&#x201C; Mit einem Worte, es herr&#x017F;chte heute ein &#x017F;o<lb/>
gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
auf Schloß Grenwitz. Jeder &#x017F;chien die Gründe, die<lb/>
er hatte, mit Die&#x017F;em oder Jenem weniger zufrieden<lb/>
zu &#x017F;ein, verge&#x017F;&#x017F;en oder doch in den Hintergrund ge¬<lb/>
&#x017F;choben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F. Spielhagen, Problemati&#x017F;che Naturen. <hi rendition="#aq">III.</hi> 10<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0155] Auch der alte Baron war auf das Angenehmſte überraſcht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬ ſamen Zuhörer der langen Geſchichte ſeiner kleinen Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn ſtets mit vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann gehalten, trotz des entſchiedenen Widerſpruchs ſeiner Anna-Maria und der mindeſtens zweifelhaften Zu¬ ſtimmung des Paſtors Jäger; und er war ordentlich froh, daß er dieſer Geſinnung heute, wo auch die Ba¬ ronin ſie zu theilen ſchien, endlich einmal einen Aus¬ druck geben konnte. Ueberhaupt ſchien die Reiſe einen ſehr günſtigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu haben. Mademoiſelle Marguerite, der man in dieſer Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete gegen Albert, „ſie iſt verändert totalement, ſie hat mich nicht geſcholten ein einziges Mal den ganzen Tag;“ worauf der ſinnige Albert erwiederte: „ja, ich finde ſelbſt, der alte Drache iſt heute beinahe genie߬ bar.“ Mit einem Worte, es herrſchte heute ein ſo gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Geſellſchaft auf Schloß Grenwitz. Jeder ſchien die Gründe, die er hatte, mit Dieſem oder Jenem weniger zufrieden zu ſein, vergeſſen oder doch in den Hintergrund ge¬ ſchoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/155
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/155>, abgerufen am 27.04.2024.