Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

Lamm so gern gerettet, und dem Harald diese Sünde
erspart -- hatte er doch schon genug auf dem Ge¬
wissen? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen
sollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬
lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch
des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des
heißen Wetters den Kopf stets dicht in Tücher ein¬
gewickelt. Harald hatte schon seit Tagen kein Wort
mehr mit mir gesprochen. Er schien wirklich ein ganz
anderer Mensch geworden zu sein. Er war, so lange
Fräulein Marie auf dem Schlosse war, nicht ein ein¬
ziges Mal betrunken gewesen; hatte keinen der Leute
geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während
doch sonst kein Tag hinging, wo er nicht diesen oder
jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er sonst
bei der geringsten Veranlassung tobte und fluchte und
sich wie ein Rasender gebehrdete, so war er jetzt ge¬
gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich,
weil er wußte, daß er sich vor mir nicht verstecken
konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte --
und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein
widerwärtiger Mensch, der beständig lächelte, und im¬
mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht
leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu
thun, als mit den Händen in den Taschen umherzu¬

Lamm ſo gern gerettet, und dem Harald dieſe Sünde
erſpart — hatte er doch ſchon genug auf dem Ge¬
wiſſen? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen
ſollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬
lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch
des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des
heißen Wetters den Kopf ſtets dicht in Tücher ein¬
gewickelt. Harald hatte ſchon ſeit Tagen kein Wort
mehr mit mir geſprochen. Er ſchien wirklich ein ganz
anderer Menſch geworden zu ſein. Er war, ſo lange
Fräulein Marie auf dem Schloſſe war, nicht ein ein¬
ziges Mal betrunken geweſen; hatte keinen der Leute
geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während
doch ſonſt kein Tag hinging, wo er nicht dieſen oder
jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er ſonſt
bei der geringſten Veranlaſſung tobte und fluchte und
ſich wie ein Raſender gebehrdete, ſo war er jetzt ge¬
gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich,
weil er wußte, daß er ſich vor mir nicht verſtecken
konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte —
und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein
widerwärtiger Menſch, der beſtändig lächelte, und im¬
mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht
leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu
thun, als mit den Händen in den Taſchen umherzu¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0250" n="240"/>
Lamm &#x017F;o gern gerettet, und dem Harald die&#x017F;e Sünde<lb/>
er&#x017F;part &#x2014; hatte er doch &#x017F;chon genug auf dem Ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen<lb/>
&#x017F;ollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬<lb/>
lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch<lb/>
des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des<lb/>
heißen Wetters den Kopf &#x017F;tets dicht in Tücher ein¬<lb/>
gewickelt. Harald hatte &#x017F;chon &#x017F;eit Tagen kein Wort<lb/>
mehr mit mir ge&#x017F;prochen. Er &#x017F;chien wirklich ein ganz<lb/>
anderer Men&#x017F;ch geworden zu &#x017F;ein. Er war, &#x017F;o lange<lb/>
Fräulein Marie auf dem Schlo&#x017F;&#x017F;e war, nicht ein ein¬<lb/>
ziges Mal betrunken gewe&#x017F;en; hatte keinen der Leute<lb/>
geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während<lb/>
doch &#x017F;on&#x017F;t kein Tag hinging, wo er nicht die&#x017F;en oder<lb/>
jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
bei der gering&#x017F;ten Veranla&#x017F;&#x017F;ung tobte und fluchte und<lb/>
&#x017F;ich wie ein Ra&#x017F;ender gebehrdete, &#x017F;o war er jetzt ge¬<lb/>
gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich,<lb/>
weil er wußte, daß er &#x017F;ich vor mir nicht ver&#x017F;tecken<lb/>
konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte &#x2014;<lb/>
und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein<lb/>
widerwärtiger Men&#x017F;ch, der be&#x017F;tändig lächelte, und im¬<lb/>
mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht<lb/>
leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu<lb/>
thun, als mit den Händen in den Ta&#x017F;chen umherzu¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0250] Lamm ſo gern gerettet, und dem Harald dieſe Sünde erſpart — hatte er doch ſchon genug auf dem Ge¬ wiſſen? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen ſollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬ lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des heißen Wetters den Kopf ſtets dicht in Tücher ein¬ gewickelt. Harald hatte ſchon ſeit Tagen kein Wort mehr mit mir geſprochen. Er ſchien wirklich ein ganz anderer Menſch geworden zu ſein. Er war, ſo lange Fräulein Marie auf dem Schloſſe war, nicht ein ein¬ ziges Mal betrunken geweſen; hatte keinen der Leute geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während doch ſonſt kein Tag hinging, wo er nicht dieſen oder jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er ſonſt bei der geringſten Veranlaſſung tobte und fluchte und ſich wie ein Raſender gebehrdete, ſo war er jetzt ge¬ gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich, weil er wußte, daß er ſich vor mir nicht verſtecken konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte — und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein widerwärtiger Menſch, der beſtändig lächelte, und im¬ mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu thun, als mit den Händen in den Taſchen umherzu¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/250
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/250>, abgerufen am 23.11.2024.