Klagen zu vergessen; er kam leise an Oswald heran und seine Hand ergreifend, sagte er:
"Was fehlt Dir, Oswald? Warum sprichst Du nicht? Zürnst Du mir?"
"Ich Dir!" mehr antwortete der junge Mann nicht; aber der Ton, mit dem er diese Worte sprach, und der Blick, mit dem er sie begleitete, waren genug, um Bruno von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen, und die so lange zurückgestaute Fluth seiner Liebe in wildem Ungestüm hervorbrechen zu machen. Er umschlang Oswald und drückte und herzte ihn unter Thränen und Schluchzen.
"Bruno, Bruno, was ist Dir?" rief Oswald durch die stürmische Zärtlichkeit des Knaben erschreckt.
"Ich glaubte, Du liebtest mich nicht mehr," schluchzte Bruno, "und sieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht mehr lieben willst, dann muß ich sterben."
Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen in seinem fieberhaft erregten Zustande so entsetzlich deutlich geträumt hatte, trat wieder vor seine Seele und gab dem leidenschaftlichen Worte des Knaben eine fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog er den Weinenden an sein Herz, und wiederholte sich im Stillen das Gelöbniß, diesem armen, verlassenen Knaben ein Bruder zu sein. -- --
Klagen zu vergeſſen; er kam leiſe an Oswald heran und ſeine Hand ergreifend, ſagte er:
„Was fehlt Dir, Oswald? Warum ſprichſt Du nicht? Zürnſt Du mir?“
„Ich Dir!“ mehr antwortete der junge Mann nicht; aber der Ton, mit dem er dieſe Worte ſprach, und der Blick, mit dem er ſie begleitete, waren genug, um Bruno von der Grundloſigkeit ſeines Verdachtes zu überzeugen, und die ſo lange zurückgeſtaute Fluth ſeiner Liebe in wildem Ungeſtüm hervorbrechen zu machen. Er umſchlang Oswald und drückte und herzte ihn unter Thränen und Schluchzen.
„Bruno, Bruno, was iſt Dir?“ rief Oswald durch die ſtürmiſche Zärtlichkeit des Knaben erſchreckt.
„Ich glaubte, Du liebteſt mich nicht mehr,“ ſchluchzte Bruno, „und ſieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht mehr lieben willſt, dann muß ich ſterben.“
Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen in ſeinem fieberhaft erregten Zuſtande ſo entſetzlich deutlich geträumt hatte, trat wieder vor ſeine Seele und gab dem leidenſchaftlichen Worte des Knaben eine fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog er den Weinenden an ſein Herz, und wiederholte ſich im Stillen das Gelöbniß, dieſem armen, verlaſſenen Knaben ein Bruder zu ſein. — —
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Klagen zu vergeſſen; er kam leiſe an Oswald heran
und ſeine Hand ergreifend, ſagte er:
„Was fehlt Dir, Oswald? Warum ſprichſt Du
nicht? Zürnſt Du mir?“
„Ich Dir!“ mehr antwortete der junge Mann nicht;
aber der Ton, mit dem er dieſe Worte ſprach, und
der Blick, mit dem er ſie begleitete, waren genug, um
Bruno von der Grundloſigkeit ſeines Verdachtes zu
überzeugen, und die ſo lange zurückgeſtaute Fluth ſeiner
Liebe in wildem Ungeſtüm hervorbrechen zu machen.
Er umſchlang Oswald und drückte und herzte ihn unter
Thränen und Schluchzen.
„Bruno, Bruno, was iſt Dir?“ rief Oswald durch
die ſtürmiſche Zärtlichkeit des Knaben erſchreckt.
„Ich glaubte, Du liebteſt mich nicht mehr,“ ſchluchzte
Bruno, „und ſieh, Oswald, wenn auch Du mich nicht
mehr lieben willſt, dann muß ich ſterben.“
Das bleiche Todtenbild, das Oswald heute Morgen
in ſeinem fieberhaft erregten Zuſtande ſo entſetzlich
deutlich geträumt hatte, trat wieder vor ſeine Seele
und gab dem leidenſchaftlichen Worte des Knaben eine
fürchterliche Bedeutung. Sprachlos vor Rührung zog
er den Weinenden an ſein Herz, und wiederholte ſich
im Stillen das Gelöbniß, dieſem armen, verlaſſenen
Knaben ein Bruder zu ſein. — —
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/278>, abgerufen am 16.07.2024.
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