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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

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goldene Brücke bauten, aus dieser nüchternen Atmo¬
sphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der drau¬
ßen warm und duftig auf Wiesen, Feldern und Wäl¬
dern lag. Von der Zuhörerschaft schien indessen Nie¬
mand dieses Weges zu bedürfen, oder ihn praktikabel
zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübschen zehn¬
jährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl
ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und
weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines
dicken Gutsbesitzers, der neben ihr andächtig nickte, em¬
pfinden mochte, und deswegen von der hageren Gou¬
vernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im
Uebrigen trugen die Gesichter aller Anwesenden ganz
entschieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken
zu Hause gelassen haben, und im besten Falle von
Menschen, die sich mit Anstand langweilen.

Und in der That, es wäre ein Wunder gewesen,
wenn diese Gemeinde sich von dieser Predigt hätte er¬
bauen lassen und von diesem Prediger. Oswald, der
der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbesitzerfamilie zu
sitzen gekommen war, erkannte auf den ersten Blick,
den er auf den Prediger richtete, und nach den ersten
Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm,
daß hier zwischen Geistlichem und Gemeinde ungefähr
so viel Sympathie bestehe, wie zwischen einem schrift¬

goldene Brücke bauten, aus dieſer nüchternen Atmo¬
ſphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der drau¬
ßen warm und duftig auf Wieſen, Feldern und Wäl¬
dern lag. Von der Zuhörerſchaft ſchien indeſſen Nie¬
mand dieſes Weges zu bedürfen, oder ihn praktikabel
zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübſchen zehn¬
jährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl
ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und
weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines
dicken Gutsbeſitzers, der neben ihr andächtig nickte, em¬
pfinden mochte, und deswegen von der hageren Gou¬
vernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im
Uebrigen trugen die Geſichter aller Anweſenden ganz
entſchieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken
zu Hauſe gelaſſen haben, und im beſten Falle von
Menſchen, die ſich mit Anſtand langweilen.

Und in der That, es wäre ein Wunder geweſen,
wenn dieſe Gemeinde ſich von dieſer Predigt hätte er¬
bauen laſſen und von dieſem Prediger. Oswald, der
der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbeſitzerfamilie zu
ſitzen gekommen war, erkannte auf den erſten Blick,
den er auf den Prediger richtete, und nach den erſten
Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm,
daß hier zwiſchen Geiſtlichem und Gemeinde ungefähr
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[96/0106] goldene Brücke bauten, aus dieſer nüchternen Atmo¬ ſphäre zu entrinnen in den Sommermorgen, der drau¬ ßen warm und duftig auf Wieſen, Feldern und Wäl¬ dern lag. Von der Zuhörerſchaft ſchien indeſſen Nie¬ mand dieſes Weges zu bedürfen, oder ihn praktikabel zu finden, mit Ausnahme etwa eines hübſchen zehn¬ jährigen Mädchens mit langen blonden Locken, die wohl ein lebhaftes Verlangen nach den bunten Blumen und weißen Schmetterlingen im Garten ihres Vaters, eines dicken Gutsbeſitzers, der neben ihr andächtig nickte, em¬ pfinden mochte, und deswegen von der hageren Gou¬ vernante oft zur Ruhe ermahnt werden mußte. Im Uebrigen trugen die Geſichter aller Anweſenden ganz entſchieden das Gepräge von Leuten, die ihre Gedanken zu Hauſe gelaſſen haben, und im beſten Falle von Menſchen, die ſich mit Anſtand langweilen. Und in der That, es wäre ein Wunder geweſen, wenn dieſe Gemeinde ſich von dieſer Predigt hätte er¬ bauen laſſen und von dieſem Prediger. Oswald, der der Kanzel gegenüber hinter der Gutsbeſitzerfamilie zu ſitzen gekommen war, erkannte auf den erſten Blick, den er auf den Prediger richtete, und nach den erſten Worten, die er aus des Mannes Munde vernahm, daß hier zwiſchen Geiſtlichem und Gemeinde ungefähr ſo viel Sympathie beſtehe, wie zwiſchen einem ſchrift¬

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/106>, abgerufen am 28.11.2024.