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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
Wobey ich immer fleißig erinnere, an den zustand der lieben jünger Christi
in den tagen seines fleisches zu gedencken, mit was schweren irrthumen die
liebe leute behafftet, und dennoch dabey ihr glaube an GOtt nach Christi ei-
genem zeugnüß rechtschaffen gewesen. Voraus gesetzt nun dessen, so ists
freylich wahr, wo kein glaube ist, da ist aller übriger schein nichts anders
als heucheley: aber von dem glauben dürffen wir nicht alle ausschlies-
sen welche in den glaubens-articuln irrthume haben. Was nachmal an-
langt das urtheil von denjenigen, welche in irrthumen und anderer religio-
nen gemeinden stehen, s/ erkenne ich freylich, daß darinnen allezeit behutsam
zu verfahren seye, aber daß doch mit weniger gefahr geurtheilet werde, wo
wir nach dem urtheil der liebe und derselben hoffnung, als wider sie, urthei-
len. Was zwar uns prediger anlangt, die wir eine mehrere erkäntnüß
der wichtigkeit jeder articul und der entgegen stehenden irrthume haben sol-
len, so haben wir freylich mit mehrerm bedacht hierinnen zu gehen, als die
ein mehrers als andere wissen müssen, und denen das urtheil in d r lehr amts
halben anvertrauet ist. Daher vermögen wir weniger uns in die gemein-
schafft mit solchen leuten einzulassen. Was aber andere anlangt, welche
allein zu ihrer eigenen seelen verwahrung die warheit und irrthum verstehen
dörffen, und denen das urtheil nicht gleicher massen anbefohlen ist, mögen
deßwegen immer eher aus dem urtheil der liebe mit denjenigen umge-
hen, an welchen sie gutes, und so viel sie erkennen mögen, zeugnüssen des
wahren glaubens in dero leben warnehmen. Wo ich aber von dem guten,
so man an solchen leuten ansehen soll, rede, so habe ich meine absicht gar nicht
auf die blosse moral-tugenden, einer gerechtigkeit, n[ü]chterkeit und derglei-
chen, sondern rede von denjenigen, da man siehet, daß es weiter gehet,
als aus menschlichen kräfften geschehen könte, sonderlich aber wo man das
fundament aller solcher tugenden selbs wahrnimmet. So ist also dieses
die meinung, wo ein Christ einen menschen siehet, und aus mehrerem um-
gang mit ihm erkennet, daß nicht nur allein der haupt-zweck und regel seines
gantzen lebens sey, daß er seinem GOtt dienen wolle, sondern hat auch sei-
ne erklärung, daß er auf nichts in der gantzen welt, weder auf sich noch ei-
nigen menschen, sondern bloß allein seines himmlischen Vaters gnade in
CHristo JEsu, sein vertrauen setze, und daraus selig zu werden glaube:
Achtet diese gnade, die ihm durch das verdienst seines einigen heylandes Chri-
sti JEsu erworben worden, in der gantzen welt für seinen einigen schatz und
trost, trachtet allein denselben zu erhalten, ruffet allein den wahren dreyeini-
gen GOTT an, bittet um den heiligen Geist und dessen erleuchtung und
regierung, enthält sich nicht nur der eusserlichen, auch in der welt straffba-
ren, laster, sondern bestrebet sich stets von allem bösen mehr und mehr

zu

Das ſiebende Capitel.
Wobey ich immer fleißig erinnere, an den zuſtand der lieben juͤnger Chriſti
in den tagen ſeines fleiſches zu gedencken, mit was ſchweren irrthumen die
liebe leute behafftet, und dennoch dabey ihr glaube an GOtt nach Chriſti ei-
genem zeugnuͤß rechtſchaffen geweſen. Voraus geſetzt nun deſſen, ſo iſts
freylich wahr, wo kein glaube iſt, da iſt aller uͤbriger ſchein nichts anders
als heucheley: aber von dem glauben duͤrffen wir nicht alle ausſchlieſ-
ſen welche in den glaubens-articuln irrthume haben. Was nachmal an-
langt das urtheil von denjenigen, welche in irrthumen und anderer religio-
nen gemeinden ſtehen, ſ/ erkenne ich freylich, daß darinnen allezeit behutſam
zu verfahren ſeye, aber daß doch mit weniger gefahr geurtheilet werde, wo
wir nach dem urtheil der liebe und derſelben hoffnung, als wider ſie, urthei-
len. Was zwar uns prediger anlangt, die wir eine mehrere erkaͤntnuͤß
der wichtigkeit jeder articul und der entgegen ſtehenden irrthume haben ſol-
len, ſo haben wir freylich mit mehrerm bedacht hierinnen zu gehen, als die
ein mehrers als andere wiſſen muͤſſen, und denen das urtheil in d r lehr amts
halben anvertrauet iſt. Daher vermoͤgen wir weniger uns in die gemein-
ſchafft mit ſolchen leuten einzulaſſen. Was aber andere anlangt, welche
allein zu ihrer eigenen ſeelen verwahrung die warheit und irrthum verſtehen
doͤrffen, und denen das urtheil nicht gleicher maſſen anbefohlen iſt, moͤgen
deßwegen immer eher aus dem urtheil der liebe mit denjenigen umge-
hen, an welchen ſie gutes, und ſo viel ſie erkennen moͤgen, zeugnuͤſſen des
wahren glaubens in dero leben warnehmen. Wo ich aber von dem guten,
ſo man an ſolchen leuten anſehen ſoll, rede, ſo habe ich meine abſicht gar nicht
auf die bloſſe moral-tugenden, einer gerechtigkeit, n[uͤ]chterkeit und derglei-
chen, ſondern rede von denjenigen, da man ſiehet, daß es weiter gehet,
als aus menſchlichen kraͤfften geſchehen koͤnte, ſonderlich aber wo man das
fundament aller ſolcher tugenden ſelbs wahrnimmet. So iſt alſo dieſes
die meinung, wo ein Chriſt einen menſchen ſiehet, und aus mehrerem um-
gang mit ihm erkennet, daß nicht nur allein der haupt-zweck und regel ſeines
gantzen lebens ſey, daß er ſeinem GOtt dienen wolle, ſondern hat auch ſei-
ne erklaͤrung, daß er auf nichts in der gantzen welt, weder auf ſich noch ei-
nigen menſchen, ſondern bloß allein ſeines himmliſchen Vaters gnade in
CHriſto JEſu, ſein vertrauen ſetze, und daraus ſelig zu werden glaube:
Achtet dieſe gnade, die ihm durch das verdienſt ſeines einigen heylandes Chri-
ſti JEſu erworben worden, in der gantzen welt fuͤr ſeinen einigen ſchatz und
troſt, trachtet allein denſelben zu erhalten, ruffet allein den wahren dreyeini-
gen GOTT an, bittet um den heiligen Geiſt und deſſen erleuchtung und
regierung, enthaͤlt ſich nicht nur der euſſerlichen, auch in der welt ſtraffba-
ren, laſter, ſondern beſtrebet ſich ſtets von allem boͤſen mehr und mehr

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[70/0082] Das ſiebende Capitel. Wobey ich immer fleißig erinnere, an den zuſtand der lieben juͤnger Chriſti in den tagen ſeines fleiſches zu gedencken, mit was ſchweren irrthumen die liebe leute behafftet, und dennoch dabey ihr glaube an GOtt nach Chriſti ei- genem zeugnuͤß rechtſchaffen geweſen. Voraus geſetzt nun deſſen, ſo iſts freylich wahr, wo kein glaube iſt, da iſt aller uͤbriger ſchein nichts anders als heucheley: aber von dem glauben duͤrffen wir nicht alle ausſchlieſ- ſen welche in den glaubens-articuln irrthume haben. Was nachmal an- langt das urtheil von denjenigen, welche in irrthumen und anderer religio- nen gemeinden ſtehen, ſ/ erkenne ich freylich, daß darinnen allezeit behutſam zu verfahren ſeye, aber daß doch mit weniger gefahr geurtheilet werde, wo wir nach dem urtheil der liebe und derſelben hoffnung, als wider ſie, urthei- len. Was zwar uns prediger anlangt, die wir eine mehrere erkaͤntnuͤß der wichtigkeit jeder articul und der entgegen ſtehenden irrthume haben ſol- len, ſo haben wir freylich mit mehrerm bedacht hierinnen zu gehen, als die ein mehrers als andere wiſſen muͤſſen, und denen das urtheil in d r lehr amts halben anvertrauet iſt. Daher vermoͤgen wir weniger uns in die gemein- ſchafft mit ſolchen leuten einzulaſſen. Was aber andere anlangt, welche allein zu ihrer eigenen ſeelen verwahrung die warheit und irrthum verſtehen doͤrffen, und denen das urtheil nicht gleicher maſſen anbefohlen iſt, moͤgen deßwegen immer eher aus dem urtheil der liebe mit denjenigen umge- hen, an welchen ſie gutes, und ſo viel ſie erkennen moͤgen, zeugnuͤſſen des wahren glaubens in dero leben warnehmen. Wo ich aber von dem guten, ſo man an ſolchen leuten anſehen ſoll, rede, ſo habe ich meine abſicht gar nicht auf die bloſſe moral-tugenden, einer gerechtigkeit, nuͤchterkeit und derglei- chen, ſondern rede von denjenigen, da man ſiehet, daß es weiter gehet, als aus menſchlichen kraͤfften geſchehen koͤnte, ſonderlich aber wo man das fundament aller ſolcher tugenden ſelbs wahrnimmet. So iſt alſo dieſes die meinung, wo ein Chriſt einen menſchen ſiehet, und aus mehrerem um- gang mit ihm erkennet, daß nicht nur allein der haupt-zweck und regel ſeines gantzen lebens ſey, daß er ſeinem GOtt dienen wolle, ſondern hat auch ſei- ne erklaͤrung, daß er auf nichts in der gantzen welt, weder auf ſich noch ei- nigen menſchen, ſondern bloß allein ſeines himmliſchen Vaters gnade in CHriſto JEſu, ſein vertrauen ſetze, und daraus ſelig zu werden glaube: Achtet dieſe gnade, die ihm durch das verdienſt ſeines einigen heylandes Chri- ſti JEſu erworben worden, in der gantzen welt fuͤr ſeinen einigen ſchatz und troſt, trachtet allein denſelben zu erhalten, ruffet allein den wahren dreyeini- gen GOTT an, bittet um den heiligen Geiſt und deſſen erleuchtung und regierung, enthaͤlt ſich nicht nur der euſſerlichen, auch in der welt ſtraffba- ren, laſter, ſondern beſtrebet ſich ſtets von allem boͤſen mehr und mehr zu

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/82>, abgerufen am 07.05.2024.