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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. V. SECT. XXVII.
haben, daß der leib mit einer bewegung ermuntert, und das gemüth damit erquicket
werde, daß es nicht als ein stäts gespannter bogen in einer immerwährenden at-
tention
auf gewisse dinge endlich gantz erliege, wie ich sonsten geschehen zu wer-
den sorge. Bey auch erwachsenen und der stäten arbeit des gemüths gewohnten
leuten, ist dennoch von nöthen, daß sie auch zuweilen den bogen etmas ablassen, und
wie sie dem leib die ruhe gönnen, also auch dann und wann dem gemüth dergleichen
zulassen. Wo ich selbs rathe, zuweilen, wenn es möglich ist, wie es aber nicht
allen möglich ist, sich aller gedancken zu entschlagen, und also wachend eine weil in
dem stand zu seyn, als ein schlaffender, damit die kräfften und zu den gedancken er-
forderte spiritus sich etwas erholen, welches jeden so viel mehr oder weniger nöthig
ist, als in betrachtungen und gedancken seine geister sich stärcker und gewaltsamer
anzugreiffen pflegen oder nicht. So vielmehr ist dergleichen nachlaß des gemüths,
und der auf etwas ernstlichers gerichteter gedancken bey gantz jungen leuten nöthig.
Hingegen sorge, daß bey einer solchen strenge und stätswährenden attention eines
theils die kräfften des leibes sehr geschwächet, die dauung gehindert, und zu einer
kräncklichen constitution auf das gantze leben ursach gegeben, anders theils der
vigor ingeniorum u. freudigkeit des gemüths gantz niedergeschlagen werde wer-
den. Die stattlichste ingenia, dero sich gleichwol GOtt nachmal in seinem reich u.
zu vielen guten gebraucht, haben hitz und feuer, daher stäte unruhe in sich, weswegen
sie gemeiniglich (welches von der erbsünde, die alles verderbet, herkommet) auch am
muthwilligsten sind. Jndessen sinds diejenige, durch die GOtt das meiste dermal-
eins thut. Was aber solche sind, die von kleinesten kindesbeinen an fromm heissen,
und aber ihre frömmigkeit meistens in einer trägheit und stilligkeit bestehet, daß sie
aus einem natürlichen unvermögen weder zu guten noch bösen starcken trieb ha-
ben, aus denen wird ihr lebtag selten etwas rechtschaffenes, und wie GOtt nicht
viel in sie geleget, so sind sie gemeiniglich auch nichtzu vielem bestimmet. Hiemit
wil ich nicht, daß deswegen jenen feurigen köpffen ihr muthwillen gestattet werden
solle, sondern gestehe gern, daß man ihnen stäts steuren, aber so steuern solle, daß das
feuer darum nicht ausgelöschet, sondern mehr und mehr in die ordnung gebracht
werde, wo es zu nutzen und nicht zu schaden brenne. Wie die fetteste erde das mei-
ste unkraut bringt, indessen wird ein kluger gärtner sie deswegen nicht so mit sand
oder andrer untüchtiger erde vermengen, daß sie ihre fettigkeit verliehre, sondern
er wird so viel fleißiger alles unkraut, so offt etwas aufgehet, ausreissen, hingegen
viel gutes, und solche gewächse darein pflantzen, die viel saffts an sich ziehen, und
und ihn also mehr und mehr dem unkraut entziehen, bis dieses endlich aussterbe:
Also hat man solchen gemüthern eben so wol ihr feuer und fettigkeit nicht zu beneh-
men, sondern ohne schwächung derselben den muthwillen mehr u. mehr zu wehren,
hingegen ihnen so vieles zu thun zu geben, als ihre kräffte ertragen. Also werden die
ingenia erhalten, und immer zu etwas rechtschaffenes tüchtiger. Hingegen durch

eine
g g g g 2

ARTIC. V. SECT. XXVII.
haben, daß der leib mit einer bewegung ermuntert, und das gemuͤth damit erquicket
werde, daß es nicht als ein ſtaͤts geſpannter bogen in einer immerwaͤhrenden at-
tention
auf gewiſſe dinge endlich gantz erliege, wie ich ſonſten geſchehen zu wer-
den ſorge. Bey auch erwachſenen und der ſtaͤten arbeit des gemuͤths gewohnten
leuten, iſt dennoch von noͤthen, daß ſie auch zuweilen den bogen etmas ablaſſen, und
wie ſie dem leib die ruhe goͤnnen, alſo auch dann und wann dem gemuͤth dergleichen
zulaſſen. Wo ich ſelbs rathe, zuweilen, wenn es moͤglich iſt, wie es aber nicht
allen moͤglich iſt, ſich aller gedancken zu entſchlagen, und alſo wachend eine weil in
dem ſtand zu ſeyn, als ein ſchlaffender, damit die kraͤfften und zu den gedancken er-
forderte ſpiritus ſich etwas erholen, welches jeden ſo viel mehr oder weniger noͤthig
iſt, als in betrachtungen und gedancken ſeine geiſter ſich ſtaͤrcker und gewaltſamer
anzugreiffen pflegen oder nicht. So vielmehr iſt dergleichen nachlaß des gemuͤths,
und der auf etwas ernſtlichers gerichteter gedancken bey gantz jungen leuten noͤthig.
Hingegen ſorge, daß bey einer ſolchen ſtrenge und ſtaͤtswaͤhrenden attention eines
theils die kraͤfften des leibes ſehr geſchwaͤchet, die dauung gehindert, und zu einer
kraͤncklichen conſtitution auf das gantze leben urſach gegeben, anders theils der
vigor ingeniorum u. freudigkeit des gemuͤths gantz niedergeſchlagen werde wer-
den. Die ſtattlichſte ingenia, dero ſich gleichwol GOtt nachmal in ſeinem reich u.
zu vielen guten gebraucht, haben hitz und feuer, daher ſtaͤte unruhe in ſich, weswegen
ſie gemeiniglich (welches von der erbſuͤnde, die alles verderbet, herkom̃et) auch am
muthwilligſten ſind. Jndeſſen ſinds diejenige, durch die GOtt das meiſte dermal-
eins thut. Was aber ſolche ſind, die von kleineſten kindesbeinen an from̃ heiſſen,
und aber ihre froͤmmigkeit meiſtens in einer traͤgheit und ſtilligkeit beſtehet, daß ſie
aus einem natuͤrlichen unvermoͤgen weder zu guten noch boͤſen ſtarcken trieb ha-
ben, aus denen wird ihr lebtag ſelten etwas rechtſchaffenes, und wie GOtt nicht
viel in ſie geleget, ſo ſind ſie gemeiniglich auch nichtzu vielem beſtimmet. Hiemit
wil ich nicht, daß deswegen jenen feurigen koͤpffen ihr muthwillen geſtattet werden
ſolle, ſondern geſtehe gern, daß man ihnen ſtaͤts ſteuren, aber ſo ſteuern ſolle, daß das
feuer darum nicht ausgeloͤſchet, ſondern mehr und mehr in die ordnung gebracht
werde, wo es zu nutzen und nicht zu ſchaden brenne. Wie die fetteſte erde das mei-
ſte unkraut bringt, indeſſen wird ein kluger gaͤrtner ſie deswegen nicht ſo mit ſand
oder andrer untuͤchtiger erde vermengen, daß ſie ihre fettigkeit verliehre, ſondern
er wird ſo viel fleißiger alles unkraut, ſo offt etwas aufgehet, ausreiſſen, hingegen
viel gutes, und ſolche gewaͤchſe darein pflantzen, die viel ſaffts an ſich ziehen, und
und ihn alſo mehr und mehr dem unkraut entziehen, bis dieſes endlich ausſterbe:
Alſo hat man ſolchen gemuͤthern eben ſo wol ihr feuer und fettigkeit nicht zu beneh-
men, ſondern ohne ſchwaͤchung derſelben den muthwillen mehr u. mehr zu wehren,
hingegen ihnen ſo vieles zu thun zu geben, als ihre kraͤffte ertragen. Alſo werden die
ingenia erhalten, und immer zu etwas rechtſchaffenes tuͤchtiger. Hingegen durch

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[603/0615] ARTIC. V. SECT. XXVII. haben, daß der leib mit einer bewegung ermuntert, und das gemuͤth damit erquicket werde, daß es nicht als ein ſtaͤts geſpannter bogen in einer immerwaͤhrenden at- tention auf gewiſſe dinge endlich gantz erliege, wie ich ſonſten geſchehen zu wer- den ſorge. Bey auch erwachſenen und der ſtaͤten arbeit des gemuͤths gewohnten leuten, iſt dennoch von noͤthen, daß ſie auch zuweilen den bogen etmas ablaſſen, und wie ſie dem leib die ruhe goͤnnen, alſo auch dann und wann dem gemuͤth dergleichen zulaſſen. Wo ich ſelbs rathe, zuweilen, wenn es moͤglich iſt, wie es aber nicht allen moͤglich iſt, ſich aller gedancken zu entſchlagen, und alſo wachend eine weil in dem ſtand zu ſeyn, als ein ſchlaffender, damit die kraͤfften und zu den gedancken er- forderte ſpiritus ſich etwas erholen, welches jeden ſo viel mehr oder weniger noͤthig iſt, als in betrachtungen und gedancken ſeine geiſter ſich ſtaͤrcker und gewaltſamer anzugreiffen pflegen oder nicht. So vielmehr iſt dergleichen nachlaß des gemuͤths, und der auf etwas ernſtlichers gerichteter gedancken bey gantz jungen leuten noͤthig. Hingegen ſorge, daß bey einer ſolchen ſtrenge und ſtaͤtswaͤhrenden attention eines theils die kraͤfften des leibes ſehr geſchwaͤchet, die dauung gehindert, und zu einer kraͤncklichen conſtitution auf das gantze leben urſach gegeben, anders theils der vigor ingeniorum u. freudigkeit des gemuͤths gantz niedergeſchlagen werde wer- den. Die ſtattlichſte ingenia, dero ſich gleichwol GOtt nachmal in ſeinem reich u. zu vielen guten gebraucht, haben hitz und feuer, daher ſtaͤte unruhe in ſich, weswegen ſie gemeiniglich (welches von der erbſuͤnde, die alles verderbet, herkom̃et) auch am muthwilligſten ſind. Jndeſſen ſinds diejenige, durch die GOtt das meiſte dermal- eins thut. Was aber ſolche ſind, die von kleineſten kindesbeinen an from̃ heiſſen, und aber ihre froͤmmigkeit meiſtens in einer traͤgheit und ſtilligkeit beſtehet, daß ſie aus einem natuͤrlichen unvermoͤgen weder zu guten noch boͤſen ſtarcken trieb ha- ben, aus denen wird ihr lebtag ſelten etwas rechtſchaffenes, und wie GOtt nicht viel in ſie geleget, ſo ſind ſie gemeiniglich auch nichtzu vielem beſtimmet. Hiemit wil ich nicht, daß deswegen jenen feurigen koͤpffen ihr muthwillen geſtattet werden ſolle, ſondern geſtehe gern, daß man ihnen ſtaͤts ſteuren, aber ſo ſteuern ſolle, daß das feuer darum nicht ausgeloͤſchet, ſondern mehr und mehr in die ordnung gebracht werde, wo es zu nutzen und nicht zu ſchaden brenne. Wie die fetteſte erde das mei- ſte unkraut bringt, indeſſen wird ein kluger gaͤrtner ſie deswegen nicht ſo mit ſand oder andrer untuͤchtiger erde vermengen, daß ſie ihre fettigkeit verliehre, ſondern er wird ſo viel fleißiger alles unkraut, ſo offt etwas aufgehet, ausreiſſen, hingegen viel gutes, und ſolche gewaͤchſe darein pflantzen, die viel ſaffts an ſich ziehen, und und ihn alſo mehr und mehr dem unkraut entziehen, bis dieſes endlich ausſterbe: Alſo hat man ſolchen gemuͤthern eben ſo wol ihr feuer und fettigkeit nicht zu beneh- men, ſondern ohne ſchwaͤchung derſelben den muthwillen mehr u. mehr zu wehren, hingegen ihnen ſo vieles zu thun zu geben, als ihre kraͤffte ertragen. Alſo werden die ingenia erhalten, und immer zu etwas rechtſchaffenes tuͤchtiger. Hingegen durch eine g g g g 2

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/615>, abgerufen am 22.11.2024.