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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
ses auskommet, wie es dann nicht mangeln wird, so hoffe ich, es solle bey andern
nicht wenig geliebten Bruders unschuld retten, wenn sie vernehmen, daß er nicht
nur in offentlichen predigten, sondern auch in dem collegio pietatis die reinigkeit
der lehr ihm lasse angelegen seyn.

Jch komme auf das 3. wegen der Kinder-zucht, und Herrn N. so dann
des andern Studiosi ungewöhnlichen rigor in derselben. Da bin nicht in abrede,
daß eine solche strenge, wo nach dessen bericht den kindern, und dazu auch noch zar-
ten kindern, keine stunde sich zu ergötzen, im hause oder hoff herum zu gehen, und
dergleichen vergönnet werde, weder von dem christenthum erfordert zu werden, noch
den kindern nützlich zu seyn erkennen kan. Daher an meinen kindern, die sonsten
hertzlich gern zu einem rechtschaffenen wesen erzogen zu werden verlange, dergleichen
nimmermehr gestatten würde. Die überwindung des eignen willens, und ver-
leugnung seiner selbs sind freylich vornehme lectionen, die auch der jugend müssen
vorgegeben, und sie darinnen geübet werden: aber die rechte mittel dazu glaube ich
nicht die gewaltsame abhaltung von allem dem, wozu ihre auch an sich nicht sünd-
liche natürliche zuneigung gehet, sondern eine freundliche und liebreiche vorstellung
der ursachen, warum dieses oder jenes besser seye, zu überzeugung der hertzen, und
daß die liebe zu dem guten recht in dieselbe gepflantzet würde. Wie ich exempel hin-
wieder weiß, daß junge leute, so unter der strengen disciplin, als lange sie bey den
eltern gewesen, gehalten, und von meisten auch erlaubten ergötzungen wider willen
zurück gerissen worden sind, wenn sie nachmal einmal in die freyheit gerathen, und
der verdrießlichen aufseher loß worden, alsdann in ungleich unbändigers und dis-
solut
ers leben gerathen sind, als andere, welchen eine ziemliche freyheit von jugend
auf gelassen worden. Jst also gar viel besser, der jugend solche schrancken ihrer
ergötzlichkeit zu setzen, welche der ermunterung ihres gemüths und erhaltung ihres
leibes gemäß sind, und ihnen nachmal mit freundlichen persuasionen beyzubrin-
gen, daß sie sich auch noch allgemach von solchen schrancken aus freyem willen zu-
rücke ziehen, und eben dieses eine übung ihrer tugend und brechung ihres eignen
willens werde, daß sie auch sich mehr und mehr des erlaubten enthalten, oder
doch selbs die eigne freyheit mehr einschrencken: Wann dieses nur in etzlichen stü-
cken bey einem knaben erlangt zu werden anfangt, achte ich mehr ausgericht, als
wo man ihn wider seinen willen noch so lange in einer sclaverey, als die das gemüth
wenig ändert, gehalten hätte. Ferner finde auch dergleichen strenge der kinder ge-
müths- und leibes-gesundheit höchst-schädlich, da doch das reich der gnaden, und
was man in demselben zu des innern menschen stärckung vornimt, das reich der
natur nicht aufheben, oder diese schwächen muß. Es bedörffen junge leute einer
gnugsamen bewegung, so vielmehr da sie mit dem lernen umzugehen haben, da nicht
nur die meiste zeit mit sitzen zugebracht, sondern auch die zarten kräffte eben dadurch
starck angegriffen werden, daß sie also neben ihrem nachtschlaf auch des tages nöthig

haben,

Das ſiebende Capitel.
ſes auskommet, wie es dann nicht mangeln wird, ſo hoffe ich, es ſolle bey andern
nicht wenig geliebten Bruders unſchuld retten, wenn ſie vernehmen, daß er nicht
nur in offentlichen predigten, ſondern auch in dem collegio pietatis die reinigkeit
der lehr ihm laſſe angelegen ſeyn.

Jch komme auf das 3. wegen der Kinder-zucht, und Herrn N. ſo dann
des andern Studioſi ungewoͤhnlichen rigor in derſelben. Da bin nicht in abrede,
daß eine ſolche ſtrenge, wo nach deſſen bericht den kindern, und dazu auch noch zar-
ten kindern, keine ſtunde ſich zu ergoͤtzen, im hauſe oder hoff herum zu gehen, und
dergleichen vergoͤnnet werde, weder von dem chriſtenthum erfordert zu werden, noch
den kindern nuͤtzlich zu ſeyn erkennen kan. Daher an meinen kindern, die ſonſten
hertzlich gern zu einem rechtſchaffenen weſen erzogen zu werden verlange, dergleichen
nimmermehr geſtatten wuͤrde. Die uͤberwindung des eignen willens, und ver-
leugnung ſeiner ſelbs ſind freylich vornehme lectionen, die auch der jugend muͤſſen
vorgegeben, und ſie darinnen geuͤbet werden: aber die rechte mittel dazu glaube ich
nicht die gewaltſame abhaltung von allem dem, wozu ihre auch an ſich nicht ſuͤnd-
liche natuͤrliche zuneigung gehet, ſondern eine freundliche und liebreiche vorſtellung
der urſachen, warum dieſes oder jenes beſſer ſeye, zu uͤberzeugung der hertzen, und
daß die liebe zu dem guten recht in dieſelbe gepflantzet wuͤrde. Wie ich exempel hin-
wieder weiß, daß junge leute, ſo unter der ſtrengen diſciplin, als lange ſie bey den
eltern geweſen, gehalten, und von meiſten auch erlaubten ergoͤtzungen wider willen
zuruͤck geriſſen worden ſind, wenn ſie nachmal einmal in die freyheit gerathen, und
der verdrießlichen aufſeher loß worden, alsdann in ungleich unbaͤndigers und diſ-
ſolut
ers leben gerathen ſind, als andere, welchen eine ziemliche freyheit von jugend
auf gelaſſen worden. Jſt alſo gar viel beſſer, der jugend ſolche ſchrancken ihrer
ergoͤtzlichkeit zu ſetzen, welche der ermunterung ihres gemuͤths und erhaltung ihres
leibes gemaͤß ſind, und ihnen nachmal mit freundlichen perſuaſionen beyzubrin-
gen, daß ſie ſich auch noch allgemach von ſolchen ſchrancken aus freyem willen zu-
ruͤcke ziehen, und eben dieſes eine uͤbung ihrer tugend und brechung ihres eignen
willens werde, daß ſie auch ſich mehr und mehr des erlaubten enthalten, oder
doch ſelbs die eigne freyheit mehr einſchrencken: Wann dieſes nur in etzlichen ſtuͤ-
cken bey einem knaben erlangt zu werden anfangt, achte ich mehr ausgericht, als
wo man ihn wider ſeinen willen noch ſo lange in einer ſclaverey, als die das gemuͤth
wenig aͤndert, gehalten haͤtte. Ferner finde auch dergleichen ſtrenge der kinder ge-
muͤths- und leibes-geſundheit hoͤchſt-ſchaͤdlich, da doch das reich der gnaden, und
was man in demſelben zu des innern menſchen ſtaͤrckung vornimt, das reich der
natur nicht aufheben, oder dieſe ſchwaͤchen muß. Es bedoͤrffen junge leute einer
gnugſamen bewegung, ſo vielmehr da ſie mit dem lernen umzugehen haben, da nicht
nur die meiſte zeit mit ſitzen zugebracht, ſondern auch die zarten kraͤffte eben dadurch
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[602/0614] Das ſiebende Capitel. ſes auskommet, wie es dann nicht mangeln wird, ſo hoffe ich, es ſolle bey andern nicht wenig geliebten Bruders unſchuld retten, wenn ſie vernehmen, daß er nicht nur in offentlichen predigten, ſondern auch in dem collegio pietatis die reinigkeit der lehr ihm laſſe angelegen ſeyn. Jch komme auf das 3. wegen der Kinder-zucht, und Herrn N. ſo dann des andern Studioſi ungewoͤhnlichen rigor in derſelben. Da bin nicht in abrede, daß eine ſolche ſtrenge, wo nach deſſen bericht den kindern, und dazu auch noch zar- ten kindern, keine ſtunde ſich zu ergoͤtzen, im hauſe oder hoff herum zu gehen, und dergleichen vergoͤnnet werde, weder von dem chriſtenthum erfordert zu werden, noch den kindern nuͤtzlich zu ſeyn erkennen kan. Daher an meinen kindern, die ſonſten hertzlich gern zu einem rechtſchaffenen weſen erzogen zu werden verlange, dergleichen nimmermehr geſtatten wuͤrde. Die uͤberwindung des eignen willens, und ver- leugnung ſeiner ſelbs ſind freylich vornehme lectionen, die auch der jugend muͤſſen vorgegeben, und ſie darinnen geuͤbet werden: aber die rechte mittel dazu glaube ich nicht die gewaltſame abhaltung von allem dem, wozu ihre auch an ſich nicht ſuͤnd- liche natuͤrliche zuneigung gehet, ſondern eine freundliche und liebreiche vorſtellung der urſachen, warum dieſes oder jenes beſſer ſeye, zu uͤberzeugung der hertzen, und daß die liebe zu dem guten recht in dieſelbe gepflantzet wuͤrde. Wie ich exempel hin- wieder weiß, daß junge leute, ſo unter der ſtrengen diſciplin, als lange ſie bey den eltern geweſen, gehalten, und von meiſten auch erlaubten ergoͤtzungen wider willen zuruͤck geriſſen worden ſind, wenn ſie nachmal einmal in die freyheit gerathen, und der verdrießlichen aufſeher loß worden, alsdann in ungleich unbaͤndigers und diſ- ſoluters leben gerathen ſind, als andere, welchen eine ziemliche freyheit von jugend auf gelaſſen worden. Jſt alſo gar viel beſſer, der jugend ſolche ſchrancken ihrer ergoͤtzlichkeit zu ſetzen, welche der ermunterung ihres gemuͤths und erhaltung ihres leibes gemaͤß ſind, und ihnen nachmal mit freundlichen perſuaſionen beyzubrin- gen, daß ſie ſich auch noch allgemach von ſolchen ſchrancken aus freyem willen zu- ruͤcke ziehen, und eben dieſes eine uͤbung ihrer tugend und brechung ihres eignen willens werde, daß ſie auch ſich mehr und mehr des erlaubten enthalten, oder doch ſelbs die eigne freyheit mehr einſchrencken: Wann dieſes nur in etzlichen ſtuͤ- cken bey einem knaben erlangt zu werden anfangt, achte ich mehr ausgericht, als wo man ihn wider ſeinen willen noch ſo lange in einer ſclaverey, als die das gemuͤth wenig aͤndert, gehalten haͤtte. Ferner finde auch dergleichen ſtrenge der kinder ge- muͤths- und leibes-geſundheit hoͤchſt-ſchaͤdlich, da doch das reich der gnaden, und was man in demſelben zu des innern menſchen ſtaͤrckung vornimt, das reich der natur nicht aufheben, oder dieſe ſchwaͤchen muß. Es bedoͤrffen junge leute einer gnugſamen bewegung, ſo vielmehr da ſie mit dem lernen umzugehen haben, da nicht nur die meiſte zeit mit ſitzen zugebracht, ſondern auch die zarten kraͤffte eben dadurch ſtarck angegriffen werden, daß ſie alſo neben ihrem nachtſchlaf auch des tages noͤthig haben,

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 602. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/614>, abgerufen am 22.11.2024.