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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. V. SECTIO XV.
che die gantze woche mit weltlichen sachen umgehen/ und an dem sonntag durch ge-
legenheit der verordneten ruhe, und betrachtung göttlichen worts von dem heiligen
Geist mehr und mehr mit seinem licht und himmlischer krafft erfüllet werden sol-
ten, dieses haupt-mittel ihrer erbauung schändlich versäumen; so werde ich den-
noch durch die unterschiedl. disputationen unsers Heylandes, so er mit den Phari-
säern gehabt, überzeuget, daß nicht nur die an des nächsten noth verrichtende liebes-
werck, sondern auch die erhaltung seiner selbsten, und die dinge dero der mensch nö-
thig hat, den sabbath nicht brechen. Der also an dem sabbath den ochsen und esel
aus dem brunnen zu ziehen, das schaaf aus der grube, da es nicht eben in lebens-
gefahr solchen tag käme, heraus zu schaffen und dergleichen zu thun vor keine ent-
heiligung gehalten, weil nemlich der mensch solcher thier zu seines lebens bequem-
lichkeit nöthig hat, und hingegen durch unterlassung dero rettung in verlust gesetzet
würde, wird auch dieses nicht vor eine entheiligung annehmen, da man die früchten,
so er zu der menschen, oder auch des denselben nöthigen viehes, unterhalt verordnet
hat, und dero verderben auf dem feld bey längerer draussenlassung folgen würde,
auch sontags, nachdem man den anfang der heiligung mit göttlichen worts anhö-
rung gemacht, dessen betrachtung bey denen, welche den HErrn fürchten, und ihre
pflicht in acht nehmen (dann die anders gesinnet sind, feyern bey aller ihrer unter-
lassung der arbeit dennoch den sabbath nicht recht) auch mitten unter der arbeit et-
licher massen fortgesetzt werden, und bey des leibes arbeit die seele in GOtt ruhen
kan, einführet, und also den segen des HErrn von dem verderben zu dem gebrauch,
dazu er bescheret ist, rettet. Da kan auch liebe und barmhertzigkeit, und etwas,
was zu der andern tafel gehöret, wo die ordentliche liebe unser selbs mit unter der
liebe des nechsten begriffen wird, dem opffer ohne mißfallen GOTTes vorgezogen
werden. Matth. 9, 13. Wider diese meine meinung halte ich nicht davor, daß et-
was recht bündiges möge vorgebracht werden können, sondern alle einwürffe wer-
den sich aus den mit wenig nur angedeuteten gründen ableinen lassen. Jch komme
nun auf die frage von der liebe des nächsten, und denjenigen sprichwörtern, wel-
che so offt deroselben entgegen gehalten zu werden pflegen, die liebe fange an sich
selbs an und seye ihm jeglicher der nächste.
Da ist aber in diesen sprichwör-
tern der rechte und mißbrauch wol zu unterscheiden: An sich selbs haben sie einen
gantz guten verstand, und ist eine göttliche wahrheit in denselben. Denn wenn Gott
befiehlet, wir sollen den nechsten lieben als uns selbs, so setzet er also die ordentliche
selbs-liebe zum anfang und regel der liebe des nechsten, daß man also mit wahr-
heit sagen mag, daß die liebe an sich selbs anfange, und bereits ehe noch der nechste
dazu kommet, ihme selbst jeder der nächste seye. Daher, was ich meinem nechsten zu
thun schuldig bin, solches bin ich mir auch schuldig, und zwar zuerst, daß ich also an
mir anfange. Auf solche art und in dem verstand sind diese sprichwörter, ob sie

wol

ARTIC. V. SECTIO XV.
che die gantze woche mit weltlichen ſachen umgehen/ und an dem ſonntag durch ge-
legenheit der verordneten ruhe, und betrachtung goͤttlichen worts von dem heiligen
Geiſt mehr und mehr mit ſeinem licht und himmliſcher krafft erfuͤllet werden ſol-
ten, dieſes haupt-mittel ihrer erbauung ſchaͤndlich verſaͤumen; ſo werde ich den-
noch durch die unterſchiedl. diſputationen unſers Heylandes, ſo er mit den Phari-
ſaͤern gehabt, uͤberzeuget, daß nicht nur die an des naͤchſten noth verrichtende liebes-
werck, ſondern auch die erhaltung ſeiner ſelbſten, und die dinge dero der menſch noͤ-
thig hat, den ſabbath nicht brechen. Der alſo an dem ſabbath den ochſen und eſel
aus dem brunnen zu ziehen, das ſchaaf aus der grube, da es nicht eben in lebens-
gefahr ſolchen tag kaͤme, heraus zu ſchaffen und dergleichen zu thun vor keine ent-
heiligung gehalten, weil nemlich der menſch ſolcher thier zu ſeines lebens bequem-
lichkeit noͤthig hat, und hingegen durch unterlaſſung dero rettung in verluſt geſetzet
wuͤrde, wird auch dieſes nicht vor eine entheiligung annehmen, da man die fruͤchten,
ſo er zu der menſchen, oder auch des denſelben noͤthigen viehes, unterhalt verordnet
hat, und dero verderben auf dem feld bey laͤngerer drauſſenlaſſung folgen wuͤrde,
auch ſontags, nachdem man den anfang der heiligung mit goͤttlichen worts anhoͤ-
rung gemacht, deſſen betrachtung bey denen, welche den HErrn fuͤrchten, und ihre
pflicht in acht nehmen (dann die anders geſinnet ſind, feyern bey aller ihrer unter-
laſſung der arbeit dennoch den ſabbath nicht recht) auch mitten unter der arbeit et-
licher maſſen fortgeſetzt werden, und bey des leibes arbeit die ſeele in GOtt ruhen
kan, einfuͤhret, und alſo den ſegen des HErrn von dem verderben zu dem gebrauch,
dazu er beſcheret iſt, rettet. Da kan auch liebe und barmhertzigkeit, und etwas,
was zu der andern tafel gehoͤret, wo die ordentliche liebe unſer ſelbs mit unter der
liebe des nechſten begriffen wird, dem opffer ohne mißfallen GOTTes vorgezogen
werden. Matth. 9, 13. Wider dieſe meine meinung halte ich nicht davor, daß et-
was recht buͤndiges moͤge vorgebracht werden koͤnnen, ſondern alle einwuͤrffe wer-
den ſich aus den mit wenig nur angedeuteten gruͤnden ableinen laſſen. Jch komme
nun auf die frage von der liebe des naͤchſten, und denjenigen ſprichwoͤrtern, wel-
che ſo offt deroſelben entgegen gehalten zu werden pflegen, die liebe fange an ſich
ſelbs an und ſeye ihm jeglicher der naͤchſte.
Da iſt aber in dieſen ſprichwoͤr-
tern der rechte und mißbrauch wol zu unterſcheiden: An ſich ſelbs haben ſie einen
gantz guten verſtand, und iſt eine goͤttliche wahrheit in denſelben. Denn wenn Gott
befiehlet, wir ſollen den nechſten lieben als uns ſelbs, ſo ſetzet er alſo die ordentliche
ſelbs-liebe zum anfang und regel der liebe des nechſten, daß man alſo mit wahr-
heit ſagen mag, daß die liebe an ſich ſelbs anfange, und bereits ehe noch der nechſte
dazu kommet, ihme ſelbſt jeder der naͤchſte ſeye. Daher, was ich meinem nechſten zu
thun ſchuldig bin, ſolches bin ich mir auch ſchuldig, und zwar zuerſt, daß ich alſo an
mir anfange. Auf ſolche art und in dem verſtand ſind dieſe ſprichwoͤrter, ob ſie

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[575/0587] ARTIC. V. SECTIO XV. che die gantze woche mit weltlichen ſachen umgehen/ und an dem ſonntag durch ge- legenheit der verordneten ruhe, und betrachtung goͤttlichen worts von dem heiligen Geiſt mehr und mehr mit ſeinem licht und himmliſcher krafft erfuͤllet werden ſol- ten, dieſes haupt-mittel ihrer erbauung ſchaͤndlich verſaͤumen; ſo werde ich den- noch durch die unterſchiedl. diſputationen unſers Heylandes, ſo er mit den Phari- ſaͤern gehabt, uͤberzeuget, daß nicht nur die an des naͤchſten noth verrichtende liebes- werck, ſondern auch die erhaltung ſeiner ſelbſten, und die dinge dero der menſch noͤ- thig hat, den ſabbath nicht brechen. Der alſo an dem ſabbath den ochſen und eſel aus dem brunnen zu ziehen, das ſchaaf aus der grube, da es nicht eben in lebens- gefahr ſolchen tag kaͤme, heraus zu ſchaffen und dergleichen zu thun vor keine ent- heiligung gehalten, weil nemlich der menſch ſolcher thier zu ſeines lebens bequem- lichkeit noͤthig hat, und hingegen durch unterlaſſung dero rettung in verluſt geſetzet wuͤrde, wird auch dieſes nicht vor eine entheiligung annehmen, da man die fruͤchten, ſo er zu der menſchen, oder auch des denſelben noͤthigen viehes, unterhalt verordnet hat, und dero verderben auf dem feld bey laͤngerer drauſſenlaſſung folgen wuͤrde, auch ſontags, nachdem man den anfang der heiligung mit goͤttlichen worts anhoͤ- rung gemacht, deſſen betrachtung bey denen, welche den HErrn fuͤrchten, und ihre pflicht in acht nehmen (dann die anders geſinnet ſind, feyern bey aller ihrer unter- laſſung der arbeit dennoch den ſabbath nicht recht) auch mitten unter der arbeit et- licher maſſen fortgeſetzt werden, und bey des leibes arbeit die ſeele in GOtt ruhen kan, einfuͤhret, und alſo den ſegen des HErrn von dem verderben zu dem gebrauch, dazu er beſcheret iſt, rettet. Da kan auch liebe und barmhertzigkeit, und etwas, was zu der andern tafel gehoͤret, wo die ordentliche liebe unſer ſelbs mit unter der liebe des nechſten begriffen wird, dem opffer ohne mißfallen GOTTes vorgezogen werden. Matth. 9, 13. Wider dieſe meine meinung halte ich nicht davor, daß et- was recht buͤndiges moͤge vorgebracht werden koͤnnen, ſondern alle einwuͤrffe wer- den ſich aus den mit wenig nur angedeuteten gruͤnden ableinen laſſen. Jch komme nun auf die frage von der liebe des naͤchſten, und denjenigen ſprichwoͤrtern, wel- che ſo offt deroſelben entgegen gehalten zu werden pflegen, die liebe fange an ſich ſelbs an und ſeye ihm jeglicher der naͤchſte. Da iſt aber in dieſen ſprichwoͤr- tern der rechte und mißbrauch wol zu unterſcheiden: An ſich ſelbs haben ſie einen gantz guten verſtand, und iſt eine goͤttliche wahrheit in denſelben. Denn wenn Gott befiehlet, wir ſollen den nechſten lieben als uns ſelbs, ſo ſetzet er alſo die ordentliche ſelbs-liebe zum anfang und regel der liebe des nechſten, daß man alſo mit wahr- heit ſagen mag, daß die liebe an ſich ſelbs anfange, und bereits ehe noch der nechſte dazu kommet, ihme ſelbſt jeder der naͤchſte ſeye. Daher, was ich meinem nechſten zu thun ſchuldig bin, ſolches bin ich mir auch ſchuldig, und zwar zuerſt, daß ich alſo an mir anfange. Auf ſolche art und in dem verſtand ſind dieſe ſprichwoͤrter, ob ſie wol

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/587>, abgerufen am 22.11.2024.