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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
historien/ oder meisten propheceyungen des A. Test./ woraus ihm die erbauliche
folgen heraus zu ziehen schwehr würden/ und er alles solches/ was er daraus ler-
net/ viel kürtzer in etzlichen sprüchen begreiffen könte. Wie wir denn nicht davor
zu halten haben/ daß die historien als histor[i]en etwas zu unsrer seligkeit oder hei-
ligung thun/ sondern nur das jenige/ was aus denselben zu unsers glaubens unter-
richtung oder des lebens-besserung gezogen werden kan/ welches wir aber alles in
kurtzen und deutlichen sprüchen finden mögen. An sich selbst aber ohne diese daraus
ziehende folgen/ so dann ausser dem/ daß die historie uns die wahrheit der schrifft/
die folge der zeiten/ und Göttliche regierung in denselben zeiget/ und so fern den
glauben der jenigen/ welche jene dinge daraus zu ziehen verstehen/ stärcket/ würden
uns die historien in der schrifft nichts mehr nutzen/ als andere ausser der schrifft be-
findliche historien. Dahero ich sie des nutzen und der erbauung wegen den lehrbü-
chern der schrifft weit nachsetze/ aber eben daraus folget/ daß sie nicht so viele zeit
wegnehmen müssen/ als den jenigen materien zugewendet wird/ welche unmittelbar
unsre erbauung wircken: Dero erkäntniß und ablesung allein schlechter dinges
nothwendig ist/ wie aber und was von den andern mit vorzunehmen/ nach der be-
wandniß ieder gemeinde und derselben umständen billich gerichtet wird.

6. Was die predigten anlangt/ ist mit recht vieles an denselben gestrafft/ und
ich straffe es eben so wol/ suche mich auch vor solchen dingen zu hüten: aber es be-
trifft also solches nicht den rechten gebrauch/ sondern nur den mißbrauch der pre-
digten/ dero nutzen an sich gewißlich viel grösser ist/ als er in dieser schrifft vorgestel-
let/ ja insgesamt fast verkleinerlich von den predigten geredet wird. Die ursach
aber des härtern urtheils über die predigten selbst finde in einem dreyfachen fal-
schen praesupposito, welches Mhhr. sich selbst gemachet hat. 1. Daß alle die pre-
digten müsten nach gewissen kunstregeln eingerichtet seyn. Dahero 2. dero zweck
nach der rhetoric kein anderer sey als persvadiren/ und eine sache amplificiren.
Und 3. daß das wort in der predigt nicht Gottes wort eigentlich/ noch von gleicher
krafft auf solche art vorgetragen seye/ als da es bloß dahin/ wie der text laute/ gelesen
werde. Hierauf sorge ich billich/ ruhe alles/ was mit solcher hefftigkeit theils gegen
die predigten/ theils vor die absolute nothwendigkeit der ablesung der gantzen schrifft
in dem tractat getrieben wird. Es sind aber alle solche praesupposita nicht richtig.
1. Ob wol die predigten in der that orationes seynd/ so finde ich gleichwol dieselbe
nach einer arte oratoria und dero praeceptis einzurichten so gar nicht nöthig/ daß
ich auch solches zu thun weder lobe noch nützlich achte/ sondern versichert bin/ es
bedörffe das göttl. wort/ welches in den predigten vorgetragen werden solle/ so gar
einer oratoriae eloqventiae nicht zu seinen fruchtbarlichen vortrag/ daß dieselbe
vielleicht ihm zuweilen ehe hinderlich 1. Cor. 1/ 17. als förderlich seyn würde. Mensch-
liche orationes tragen solche dinge vor/ die nicht allezeit in sich selbst so kräftig sind/
in die gemüther einzutringen/ und ihnen deswegen mit allerley kunstmitteln geholf-

fen

Das ſechſte Capitel.
hiſtorien/ oder meiſten propheceyungen des A. Teſt./ woraus ihm die erbauliche
folgen heraus zu ziehen ſchwehr wuͤrden/ und er alles ſolches/ was er daraus ler-
net/ viel kuͤrtzer in etzlichen ſpruͤchen begreiffen koͤnte. Wie wir denn nicht davor
zu halten haben/ daß die hiſtorien als hiſtor[i]en etwas zu unſrer ſeligkeit oder hei-
ligung thun/ ſondern nur das jenige/ was aus denſelben zu unſers glaubens unter-
richtung oder des lebens-beſſerung gezogen werden kan/ welches wir aber alles in
kurtzen und deutlichen ſpruͤchen finden moͤgen. An ſich ſelbſt aber ohne dieſe daraus
ziehende folgen/ ſo dann auſſer dem/ daß die hiſtorie uns die wahrheit der ſchrifft/
die folge der zeiten/ und Goͤttliche regierung in denſelben zeiget/ und ſo fern den
glauben der jenigen/ welche jene dinge daraus zu ziehen verſtehen/ ſtaͤrcket/ wuͤrden
uns die hiſtorien in der ſchrifft nichts mehr nutzen/ als andere auſſer der ſchrifft be-
findliche hiſtorien. Dahero ich ſie des nutzen und der erbauung wegen den lehrbuͤ-
chern der ſchrifft weit nachſetze/ aber eben daraus folget/ daß ſie nicht ſo viele zeit
wegnehmen muͤſſen/ als den jenigen materien zugewendet wird/ welche unmittelbar
unſre erbauung wircken: Dero erkaͤntniß und ableſung allein ſchlechter dinges
nothwendig iſt/ wie aber und was von den andern mit vorzunehmen/ nach der be-
wandniß ieder gemeinde und derſelben umſtaͤnden billich gerichtet wird.

6. Was die predigten anlangt/ iſt mit recht vieles an denſelben geſtrafft/ und
ich ſtraffe es eben ſo wol/ ſuche mich auch vor ſolchen dingen zu huͤten: aber es be-
trifft alſo ſolches nicht den rechten gebrauch/ ſondern nur den mißbrauch der pre-
digten/ dero nutzen an ſich gewißlich viel groͤſſer iſt/ als er in dieſer ſchrifft vorgeſtel-
let/ ja insgeſamt faſt verkleinerlich von den predigten geredet wird. Die urſach
aber des haͤrtern urtheils uͤber die predigten ſelbſt finde in einem dreyfachen fal-
ſchen præſuppoſito, welches Mhhr. ſich ſelbſt gemachet hat. 1. Daß alle die pre-
digten muͤſten nach gewiſſen kunſtregeln eingerichtet ſeyn. Dahero 2. dero zweck
nach der rhetoric kein anderer ſey als perſvadiren/ und eine ſache amplificiren.
Und 3. daß das wort in der predigt nicht Gottes wort eigentlich/ noch von gleicher
krafft auf ſolche art vorgetragen ſeye/ als da es bloß dahin/ wie der text laute/ geleſen
werde. Hierauf ſorge ich billich/ ruhe alles/ was mit ſolcher hefftigkeit theils gegen
die predigtẽ/ theils vor die abſolute nothwendigkeit der ableſung der gantzen ſchrifft
in dem tractat getrieben wird. Es ſind aber alle ſolche præſuppoſita nicht richtig.
1. Ob wol die predigten in der that orationes ſeynd/ ſo finde ich gleichwol dieſelbe
nach einer arte oratoria und dero præceptis einzurichten ſo gar nicht noͤthig/ daß
ich auch ſolches zu thun weder lobe noch nuͤtzlich achte/ ſondern verſichert bin/ es
bedoͤrffe das goͤttl. wort/ welches in den predigten vorgetragen werden ſolle/ ſo gar
einer oratoriæ eloqventiæ nicht zu ſeinen fruchtbarlichen vortrag/ daß dieſelbe
vielleicht ihm zuweilen ehe hinderlich 1. Cor. 1/ 17. als foͤrderlich ſeyn wuͤrde. Menſch-
liche orationes tragen ſolche dinge vor/ die nicht allezeit in ſich ſelbſt ſo kraͤftig ſind/
in die gemuͤther einzutringen/ und ihnen deswegen mit allerley kunſtmitteln geholf-

fen
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[750/0768] Das ſechſte Capitel. hiſtorien/ oder meiſten propheceyungen des A. Teſt./ woraus ihm die erbauliche folgen heraus zu ziehen ſchwehr wuͤrden/ und er alles ſolches/ was er daraus ler- net/ viel kuͤrtzer in etzlichen ſpruͤchen begreiffen koͤnte. Wie wir denn nicht davor zu halten haben/ daß die hiſtorien als hiſtorien etwas zu unſrer ſeligkeit oder hei- ligung thun/ ſondern nur das jenige/ was aus denſelben zu unſers glaubens unter- richtung oder des lebens-beſſerung gezogen werden kan/ welches wir aber alles in kurtzen und deutlichen ſpruͤchen finden moͤgen. An ſich ſelbſt aber ohne dieſe daraus ziehende folgen/ ſo dann auſſer dem/ daß die hiſtorie uns die wahrheit der ſchrifft/ die folge der zeiten/ und Goͤttliche regierung in denſelben zeiget/ und ſo fern den glauben der jenigen/ welche jene dinge daraus zu ziehen verſtehen/ ſtaͤrcket/ wuͤrden uns die hiſtorien in der ſchrifft nichts mehr nutzen/ als andere auſſer der ſchrifft be- findliche hiſtorien. Dahero ich ſie des nutzen und der erbauung wegen den lehrbuͤ- chern der ſchrifft weit nachſetze/ aber eben daraus folget/ daß ſie nicht ſo viele zeit wegnehmen muͤſſen/ als den jenigen materien zugewendet wird/ welche unmittelbar unſre erbauung wircken: Dero erkaͤntniß und ableſung allein ſchlechter dinges nothwendig iſt/ wie aber und was von den andern mit vorzunehmen/ nach der be- wandniß ieder gemeinde und derſelben umſtaͤnden billich gerichtet wird. 6. Was die predigten anlangt/ iſt mit recht vieles an denſelben geſtrafft/ und ich ſtraffe es eben ſo wol/ ſuche mich auch vor ſolchen dingen zu huͤten: aber es be- trifft alſo ſolches nicht den rechten gebrauch/ ſondern nur den mißbrauch der pre- digten/ dero nutzen an ſich gewißlich viel groͤſſer iſt/ als er in dieſer ſchrifft vorgeſtel- let/ ja insgeſamt faſt verkleinerlich von den predigten geredet wird. Die urſach aber des haͤrtern urtheils uͤber die predigten ſelbſt finde in einem dreyfachen fal- ſchen præſuppoſito, welches Mhhr. ſich ſelbſt gemachet hat. 1. Daß alle die pre- digten muͤſten nach gewiſſen kunſtregeln eingerichtet ſeyn. Dahero 2. dero zweck nach der rhetoric kein anderer ſey als perſvadiren/ und eine ſache amplificiren. Und 3. daß das wort in der predigt nicht Gottes wort eigentlich/ noch von gleicher krafft auf ſolche art vorgetragen ſeye/ als da es bloß dahin/ wie der text laute/ geleſen werde. Hierauf ſorge ich billich/ ruhe alles/ was mit ſolcher hefftigkeit theils gegen die predigtẽ/ theils vor die abſolute nothwendigkeit der ableſung der gantzen ſchrifft in dem tractat getrieben wird. Es ſind aber alle ſolche præſuppoſita nicht richtig. 1. Ob wol die predigten in der that orationes ſeynd/ ſo finde ich gleichwol dieſelbe nach einer arte oratoria und dero præceptis einzurichten ſo gar nicht noͤthig/ daß ich auch ſolches zu thun weder lobe noch nuͤtzlich achte/ ſondern verſichert bin/ es bedoͤrffe das goͤttl. wort/ welches in den predigten vorgetragen werden ſolle/ ſo gar einer oratoriæ eloqventiæ nicht zu ſeinen fruchtbarlichen vortrag/ daß dieſelbe vielleicht ihm zuweilen ehe hinderlich 1. Cor. 1/ 17. als foͤrderlich ſeyn wuͤrde. Menſch- liche orationes tragen ſolche dinge vor/ die nicht allezeit in ſich ſelbſt ſo kraͤftig ſind/ in die gemuͤther einzutringen/ und ihnen deswegen mit allerley kunſtmitteln geholf- fen

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 750. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/768>, abgerufen am 23.11.2024.