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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO VII.
und darinnen den Papisten gewonnen geben/ oder es muß blos unmüglich seyn/ daß
warhafftig glaubige abfallen/ damit die Reformirte gewonnen haben. Da wird
Herr Stenger mit seinem tertio nichts ausrichten/ daß es zwar nicht gantz unmüg-
lich sey/ aber doch gewöhnlich nicht geschehe: dann damit fällt doch die gewißheit
hin/ welche sein schluß urgiret. Wir aber können den Reformirten gründlich ant-
worten/ daß wir unserer seligkeit gewiß seyn/ nicht certitudine absoluta, mit ei-
ner unbedingten gewißheit/ wie der Reformirten irrthum ist/ sondern condi-
tionata
mit einer bedingten/ und in eine gewisse ordnung eingeschlossenen gewiß-
heit/ nach der recht gläubigen lehrer einmüthigen satz. Wir müssen freylich un-
serer ends beharrligkeit gewiß seyn/ aber doch darbey mit furcht und zittern schaf-
fen/ daß wir selig werden. Phil. 2. Ja daß kein andere/ als solche conditionata
certitudo
sey/ gibt uns Herr Stenger selbst zu/ pag. 306. GOtt wende seine
gnade nicht ehe von einem wiedergebohrnen/ er lasse dann fahren seinen gu-
ten vorsatz/ und fasse einen bösen vorsatz.
Wie nun dieser dritte schluß itzt be-
schehener massen/ unbündig: also 4. ists eben so übel gefolgert/ daß so fern böse
und fromme Christen so gut wären/ einer als der andere. Es bleibet noch grosser
unterscheid. Was böse Christen thun/ die nicht in GOttes gnade stehen/ sind
lauter tod-sünden/ wie Herr Stenger selbst gestehet. Jst dann nicht grosser un-
terscheid zwischen dem/ der augenblicklich nichts anders als lauter tod-sünden thut/
und dem jenigen/ der etwa noch einige mahl von dem teuffel verleitet wird? Ob
schon er eben damit auch seinen gnadenstand verleuret/ und in solchem stand/ ehe er
zur busse komt/ kein frommer Christ mehr ist. Alles bisher angeführte zeiget/ daß
demnach die vollkommenheit/ welche Herr Stenger den wahren Christen zuschrei-
bet/ daß nicht leicht einer von GOTT abweichen könne/ aus der Schrifft nicht er-
weißlich seye; vielmehr aber streite mit der in der Schrifft nachdrücklich beschriebe-
nen unvollkommenheit und verderbnüß der menschlichen natur/ auch noch bey wie-
dergebohrnen Christen übrigen fleisches. 2. Streitet auch solche meynung wider
die in der Schrifft billich aller orten hochgepriesene unendliche barmhertzigkeit Got-
tes. Wo es heisset/ der zum drittenmahl in muthwillige sünden rückfällige
mensch wird wohl zur rechten busse nicht erneuert werden/ geschehe es ja/ so
müste es was ausser ordentliches heissen. Und/ der zum drittemnahl rück-
fällige mensch wird gewöhnlich nicht wieder zur busse erneuret und auffge-
richtet.
Wir sagen hier nicht/ daß man einen so vielmahl rückfälligen menschen/
da er in solcher seiner boßheit stehet/ versichern könne/ daß er auch wieder werde zur
busse bekehret werden. Dann vielleicht kan ihn in solchem augenblick GOtt weg-
reissen/ und also in seinen sünden sterben lassen/ oder aber das gericht der versto-
ckung über ihn verhängen. Vielweniger mögen wir einen darauff weisen/ er solte
nur immerhin frevel sündigen/ GOTT müste ihn doch wohl wiederum bekehren.
solcher trost würde allzu vermessen seyn; Aber hingegen ist eben so vermessen/ gött-

licher
H

ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO VII.
und darinnen den Papiſten gewonnen geben/ oder es muß blos unmuͤglich ſeyn/ daß
warhafftig glaubige abfallen/ damit die Reformirte gewonnen haben. Da wird
Herr Stenger mit ſeinem tertio nichts ausrichten/ daß es zwar nicht gantz unmuͤg-
lich ſey/ aber doch gewoͤhnlich nicht geſchehe: dann damit faͤllt doch die gewißheit
hin/ welche ſein ſchluß urgiret. Wir aber koͤnnen den Reformirten gruͤndlich ant-
worten/ daß wir unſerer ſeligkeit gewiß ſeyn/ nicht certitudine abſoluta, mit ei-
ner unbedingten gewißheit/ wie der Reformirten irrthum iſt/ ſondern condi-
tionata
mit einer bedingten/ und in eine gewiſſe ordnung eingeſchloſſenen gewiß-
heit/ nach der recht glaͤubigen lehrer einmuͤthigen ſatz. Wir muͤſſen freylich un-
ſerer ends beharrligkeit gewiß ſeyn/ aber doch darbey mit furcht und zittern ſchaf-
fen/ daß wir ſelig werden. Phil. 2. Ja daß kein andere/ als ſolche conditionata
certitudo
ſey/ gibt uns Herr Stenger ſelbſt zu/ pag. 306. GOtt wende ſeine
gnade nicht ehe von einem wiedergebohrnen/ er laſſe dann fahren ſeinen gu-
ten vorſatz/ und faſſe einen boͤſen vorſatz.
Wie nun dieſer dritte ſchluß itzt be-
ſchehener maſſen/ unbuͤndig: alſo 4. iſts eben ſo uͤbel gefolgert/ daß ſo fern boͤſe
und fromme Chriſten ſo gut waͤren/ einer als der andere. Es bleibet noch groſſer
unterſcheid. Was boͤſe Chriſten thun/ die nicht in GOttes gnade ſtehen/ ſind
lauter tod-ſuͤnden/ wie Herr Stenger ſelbſt geſtehet. Jſt dann nicht groſſer un-
terſcheid zwiſchen dem/ der augenblicklich nichts anders als lauter tod-ſuͤnden thut/
und dem jenigen/ der etwa noch einige mahl von dem teuffel verleitet wird? Ob
ſchon er eben damit auch ſeinen gnadenſtand verleuret/ und in ſolchem ſtand/ ehe er
zur buſſe komt/ kein frommer Chriſt mehr iſt. Alles bisher angefuͤhrte zeiget/ daß
demnach die vollkommenheit/ welche Herr Stenger den wahren Chriſten zuſchrei-
bet/ daß nicht leicht einer von GOTT abweichen koͤnne/ aus der Schrifft nicht er-
weißlich ſeye; vielmehr aber ſtreite mit der in der Schrifft nachdruͤcklich beſchriebe-
nen unvollkommenheit und verderbnuͤß der menſchlichen natur/ auch noch bey wie-
dergebohrnen Chriſten uͤbrigen fleiſches. 2. Streitet auch ſolche meynung wider
die in der Schrifft billich aller orten hochgeprieſene unendliche barmhertzigkeit Got-
tes. Wo es heiſſet/ der zum drittenmahl in muthwillige ſuͤnden ruͤckfaͤllige
menſch wird wohl zur rechten buſſe nicht erneuert werden/ geſchehe es ja/ ſo
muͤſte es was auſſer ordentliches heiſſen. Und/ der zum drittemnahl ruͤck-
faͤllige menſch wird gewoͤhnlich nicht wieder zur buſſe erneuret und auffge-
richtet.
Wir ſagen hier nicht/ daß man einen ſo vielmahl ruͤckfaͤlligen menſchen/
da er in ſolcher ſeiner boßheit ſtehet/ verſichern koͤnne/ daß er auch wieder werde zur
buſſe bekehret werden. Dann vielleicht kan ihn in ſolchem augenblick GOtt weg-
reiſſen/ und alſo in ſeinen ſuͤnden ſterben laſſen/ oder aber das gericht der verſto-
ckung uͤber ihn verhaͤngen. Vielweniger moͤgen wir einen darauff weiſen/ er ſolte
nur immerhin frevel ſuͤndigen/ GOTT muͤſte ihn doch wohl wiederum bekehren.
ſolcher troſt wuͤrde allzu vermeſſen ſeyn; Aber hingegen iſt eben ſo vermeſſen/ goͤtt-

licher
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[57/0075] ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO VII. und darinnen den Papiſten gewonnen geben/ oder es muß blos unmuͤglich ſeyn/ daß warhafftig glaubige abfallen/ damit die Reformirte gewonnen haben. Da wird Herr Stenger mit ſeinem tertio nichts ausrichten/ daß es zwar nicht gantz unmuͤg- lich ſey/ aber doch gewoͤhnlich nicht geſchehe: dann damit faͤllt doch die gewißheit hin/ welche ſein ſchluß urgiret. Wir aber koͤnnen den Reformirten gruͤndlich ant- worten/ daß wir unſerer ſeligkeit gewiß ſeyn/ nicht certitudine abſoluta, mit ei- ner unbedingten gewißheit/ wie der Reformirten irrthum iſt/ ſondern condi- tionata mit einer bedingten/ und in eine gewiſſe ordnung eingeſchloſſenen gewiß- heit/ nach der recht glaͤubigen lehrer einmuͤthigen ſatz. Wir muͤſſen freylich un- ſerer ends beharrligkeit gewiß ſeyn/ aber doch darbey mit furcht und zittern ſchaf- fen/ daß wir ſelig werden. Phil. 2. Ja daß kein andere/ als ſolche conditionata certitudo ſey/ gibt uns Herr Stenger ſelbſt zu/ pag. 306. GOtt wende ſeine gnade nicht ehe von einem wiedergebohrnen/ er laſſe dann fahren ſeinen gu- ten vorſatz/ und faſſe einen boͤſen vorſatz. Wie nun dieſer dritte ſchluß itzt be- ſchehener maſſen/ unbuͤndig: alſo 4. iſts eben ſo uͤbel gefolgert/ daß ſo fern boͤſe und fromme Chriſten ſo gut waͤren/ einer als der andere. Es bleibet noch groſſer unterſcheid. Was boͤſe Chriſten thun/ die nicht in GOttes gnade ſtehen/ ſind lauter tod-ſuͤnden/ wie Herr Stenger ſelbſt geſtehet. Jſt dann nicht groſſer un- terſcheid zwiſchen dem/ der augenblicklich nichts anders als lauter tod-ſuͤnden thut/ und dem jenigen/ der etwa noch einige mahl von dem teuffel verleitet wird? Ob ſchon er eben damit auch ſeinen gnadenſtand verleuret/ und in ſolchem ſtand/ ehe er zur buſſe komt/ kein frommer Chriſt mehr iſt. Alles bisher angefuͤhrte zeiget/ daß demnach die vollkommenheit/ welche Herr Stenger den wahren Chriſten zuſchrei- bet/ daß nicht leicht einer von GOTT abweichen koͤnne/ aus der Schrifft nicht er- weißlich ſeye; vielmehr aber ſtreite mit der in der Schrifft nachdruͤcklich beſchriebe- nen unvollkommenheit und verderbnuͤß der menſchlichen natur/ auch noch bey wie- dergebohrnen Chriſten uͤbrigen fleiſches. 2. Streitet auch ſolche meynung wider die in der Schrifft billich aller orten hochgeprieſene unendliche barmhertzigkeit Got- tes. Wo es heiſſet/ der zum drittenmahl in muthwillige ſuͤnden ruͤckfaͤllige menſch wird wohl zur rechten buſſe nicht erneuert werden/ geſchehe es ja/ ſo muͤſte es was auſſer ordentliches heiſſen. Und/ der zum drittemnahl ruͤck- faͤllige menſch wird gewoͤhnlich nicht wieder zur buſſe erneuret und auffge- richtet. Wir ſagen hier nicht/ daß man einen ſo vielmahl ruͤckfaͤlligen menſchen/ da er in ſolcher ſeiner boßheit ſtehet/ verſichern koͤnne/ daß er auch wieder werde zur buſſe bekehret werden. Dann vielleicht kan ihn in ſolchem augenblick GOtt weg- reiſſen/ und alſo in ſeinen ſuͤnden ſterben laſſen/ oder aber das gericht der verſto- ckung uͤber ihn verhaͤngen. Vielweniger moͤgen wir einen darauff weiſen/ er ſolte nur immerhin frevel ſuͤndigen/ GOTT muͤſte ihn doch wohl wiederum bekehren. ſolcher troſt wuͤrde allzu vermeſſen ſeyn; Aber hingegen iſt eben ſo vermeſſen/ goͤtt- licher H

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/75>, abgerufen am 25.11.2024.