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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

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Das fünffte Capitel.
das göttliche ebenbild wiederum in ihnen völlig erneuert fähig ist/ alle solche
strahlen gleichsam auffzufassen und selbst anzunehmen/ daher der Apostel sich
nicht entblödet zu sagen/ sie werden ihm gleich seyn/ denn sie werden ihn
sehen wie erist. 1. Joh. 3/ 2.
daß es also je kein unfruchtbares und unkräfftiges
sehen seyn kan/ sondern ein solches seyn muß/ dadurch das sehende alle des an-
dern herrlichkeit selbst in sich ziehet. Sie werden sehen ihren höchstverdienten
Heyland/ welchen sie/ ehe sie ihn gesehen/ bereits alhier hertzlich geliebet/ und
daß sie ihn nicht gnugsam lieben könten/ schmertzlich bedauret haben. Wie sie ihn
aber jetzo sehen in seiner herrlichkeit und selbst alle ihre schwachheit/ und was
sie an ihrer vollkommenen liebe und fähigkeit gehindert hatte/ abgeleget ha-
ben/ also wird nun die liebe also durchtringend seyn/ daß wie der HERR
sich ihrer liebe gantz überlässet/ also auch diese ihn allerdings in sich fasse/ und
mit aller seiner herrlichkeit besitze/ viel genauer als der mond das liecht der
sonnen aufffaßet/ und darinn leuchtet. Sie werden in GOtt sehen alle sei-
ne güte und weißheit/ welche er ihnen in ihrem gantzen leben erzeiget/ sonder-
lich mit welcher er ihr heil geschaffet hat; wie viele gaben er über sieausge-
gossen; wie manche gefahr er von ihnen abgewendet habe/ von welchem allem
sie den hundersten theil kaum hier erkennet/ und was sie erkant/ gleichwol
nicht tieff genung eingesehen haben: hingegen in jeglicher erkäntnüß der be-
reits hier empfangerer göttlichen wolthaten eine so viel inniglichere wonne
finden werden/ als tieffer sie nun in die verborgene güte und weißheit/ dero
sie ihr heyl schuldig sind/ einschauen/ und sich mit lauter dancksagung darü-
ber verwundern. Sie werden nun bey ihrem Heyland seyn allezeit/ und
mit ihrem erstgebohrnen bruder unverletzt der göttlichen ehre und anbetung/
damit sie ihn zum demüthigsten verehren/ auffs vertraulichste umgehen/ als
eine jüngere schwester mit ihrem ältern bruder/ oder eine braut mit ihrem ge-
liebten bräutigam. Und wie er denn nichts/ als liebe und freundlichkeit ist/
so ist auch ihr gantzes leben nichts anders/ als der süsseste genuß einer in die-
ser unvollkommenheit noch unbegreiflichen liebe. Sie werden sehen die lie-
ben Engel und himmlische Fürsten/ mit denen sie nun unter einem haupt und
HErrn JEsu vereiniget/ und nicht geringerer herrlichkeit theilhafftig sind/
ja derselben gesellschafft sich so viel mehr freuen werden/ weil sie diejenige
sind/ welche sie auch hier auff ihres HErrn befehl in so mancher gefahr be-
schützet haben. Sie werden sehen nicht nur diejenige/ welche sie hier im fleisch
gekant und geliebet haben/ so viele derselben in wahrem glauben ihnen vorge-
gangen oder nachgefolget sind/ an dem seligen ort der herrlichen zusammen-
kunfft/ wo auch die erinnerung der vorigen liebe die freude vermehret/ sondern
alle kinder GOttes/ die von anbegin der welt gelebet/ und sie unterschiedli-
cher davon nahmen gehöret/ auch dieselben geliebet/ ja vor eine grosse glück-

selig-

Das fuͤnffte Capitel.
das goͤttliche ebenbild wiederum in ihnen voͤllig erneuert faͤhig iſt/ alle ſolche
ſtrahlen gleichſam auffzufaſſen und ſelbſt anzunehmen/ daher der Apoſtel ſich
nicht entbloͤdet zu ſagen/ ſie werden ihm gleich ſeyn/ denn ſie werden ihn
ſehen wie eriſt. 1. Joh. 3/ 2.
daß es alſo je kein unfruchtbares uñ unkraͤfftiges
ſehen ſeyn kan/ ſondern ein ſolches ſeyn muß/ dadurch das ſehende alle des an-
dern herrlichkeit ſelbſt in ſich ziehet. Sie werden ſehen ihren hoͤchſtverdienten
Heyland/ welchen ſie/ ehe ſie ihn geſehen/ bereits alhier hertzlich geliebet/ und
daß ſie ihn nicht gnugſam lieben koͤntẽ/ ſchmeꝛtzlich bedauꝛet habẽ. Wie ſie ihn
aber jetzo ſehen in ſeiner herrlichkeit und ſelbſt alle ihre ſchwachheit/ und was
ſie an ihrer vollkommenen liebe und faͤhigkeit gehindert hatte/ abgeleget ha-
ben/ alſo wird nun die liebe alſo durchtringend ſeyn/ daß wie der HERR
ſich ihrer liebe gantz uͤberlaͤſſet/ alſo auch dieſe ihn allerdings in ſich faſſe/ und
mit aller ſeiner herrlichkeit beſitze/ viel genauer als der mond das liecht der
ſonnen aufffaßet/ und darinn leuchtet. Sie werden in GOtt ſehen alle ſei-
ne guͤte und weißheit/ welche er ihnen in ihrem gantzen leben erzeiget/ ſonder-
lich mit welcher er ihr heil geſchaffet hat; wie viele gaben er uͤber ſieausge-
goſſen; wie manche gefahr er von ihnen abgewendet habe/ von welchem allem
ſie den hunderſten theil kaum hier erkennet/ und was ſie erkant/ gleichwol
nicht tieff genung eingeſehen haben: hingegen in jeglicher erkaͤntnuͤß der be-
reits hier empfangerer goͤttlichen wolthaten eine ſo viel inniglichere wonne
finden werden/ als tieffer ſie nun in die verborgene guͤte und weißheit/ dero
ſie ihr heyl ſchuldig ſind/ einſchauen/ und ſich mit lauter danckſagung daruͤ-
ber verwundern. Sie werden nun bey ihrem Heyland ſeyn allezeit/ und
mit ihrem erſtgebohrnen bruder unverletzt der goͤttlichen ehre und anbetung/
damit ſie ihn zum demuͤthigſten verehren/ auffs vertraulichſte umgehen/ als
eine juͤngere ſchweſter mit ihrem aͤltern bruder/ oder eine braut mit ihrem ge-
liebten braͤutigam. Und wie er denn nichts/ als liebe und freundlichkeit iſt/
ſo iſt auch ihr gantzes leben nichts anders/ als der ſuͤſſeſte genuß einer in die-
ſer unvollkommenheit noch unbegreiflichen liebe. Sie werden ſehen die lie-
ben Engel und himmliſche Fuͤrſten/ mit denen ſie nun unter einem haupt und
HErrn JEſu vereiniget/ und nicht geringerer herrlichkeit theilhafftig ſind/
ja derſelben geſellſchafft ſich ſo viel mehr freuen werden/ weil ſie diejenige
ſind/ welche ſie auch hier auff ihres HErrn befehl in ſo mancher gefahr be-
ſchuͤtzet haben. Sie werden ſehen nicht nur diejenige/ welche ſie hier im fleiſch
gekant und geliebet haben/ ſo viele derſelben in wahrem glauben ihnen vorge-
gangen oder nachgefolget ſind/ an dem ſeligen ort der herrlichen zuſammen-
kunfft/ wo auch die erinneꝛung der vorigen liebe die freude vermehꝛet/ ſondern
alle kinder GOttes/ die von anbegin der welt gelebet/ und ſie unterſchiedli-
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[872/0880] Das fuͤnffte Capitel. das goͤttliche ebenbild wiederum in ihnen voͤllig erneuert faͤhig iſt/ alle ſolche ſtrahlen gleichſam auffzufaſſen und ſelbſt anzunehmen/ daher der Apoſtel ſich nicht entbloͤdet zu ſagen/ ſie werden ihm gleich ſeyn/ denn ſie werden ihn ſehen wie eriſt. 1. Joh. 3/ 2. daß es alſo je kein unfruchtbares uñ unkraͤfftiges ſehen ſeyn kan/ ſondern ein ſolches ſeyn muß/ dadurch das ſehende alle des an- dern herrlichkeit ſelbſt in ſich ziehet. Sie werden ſehen ihren hoͤchſtverdienten Heyland/ welchen ſie/ ehe ſie ihn geſehen/ bereits alhier hertzlich geliebet/ und daß ſie ihn nicht gnugſam lieben koͤntẽ/ ſchmeꝛtzlich bedauꝛet habẽ. Wie ſie ihn aber jetzo ſehen in ſeiner herrlichkeit und ſelbſt alle ihre ſchwachheit/ und was ſie an ihrer vollkommenen liebe und faͤhigkeit gehindert hatte/ abgeleget ha- ben/ alſo wird nun die liebe alſo durchtringend ſeyn/ daß wie der HERR ſich ihrer liebe gantz uͤberlaͤſſet/ alſo auch dieſe ihn allerdings in ſich faſſe/ und mit aller ſeiner herrlichkeit beſitze/ viel genauer als der mond das liecht der ſonnen aufffaßet/ und darinn leuchtet. Sie werden in GOtt ſehen alle ſei- ne guͤte und weißheit/ welche er ihnen in ihrem gantzen leben erzeiget/ ſonder- lich mit welcher er ihr heil geſchaffet hat; wie viele gaben er uͤber ſieausge- goſſen; wie manche gefahr er von ihnen abgewendet habe/ von welchem allem ſie den hunderſten theil kaum hier erkennet/ und was ſie erkant/ gleichwol nicht tieff genung eingeſehen haben: hingegen in jeglicher erkaͤntnuͤß der be- reits hier empfangerer goͤttlichen wolthaten eine ſo viel inniglichere wonne finden werden/ als tieffer ſie nun in die verborgene guͤte und weißheit/ dero ſie ihr heyl ſchuldig ſind/ einſchauen/ und ſich mit lauter danckſagung daruͤ- ber verwundern. Sie werden nun bey ihrem Heyland ſeyn allezeit/ und mit ihrem erſtgebohrnen bruder unverletzt der goͤttlichen ehre und anbetung/ damit ſie ihn zum demuͤthigſten verehren/ auffs vertraulichſte umgehen/ als eine juͤngere ſchweſter mit ihrem aͤltern bruder/ oder eine braut mit ihrem ge- liebten braͤutigam. Und wie er denn nichts/ als liebe und freundlichkeit iſt/ ſo iſt auch ihr gantzes leben nichts anders/ als der ſuͤſſeſte genuß einer in die- ſer unvollkommenheit noch unbegreiflichen liebe. Sie werden ſehen die lie- ben Engel und himmliſche Fuͤrſten/ mit denen ſie nun unter einem haupt und HErrn JEſu vereiniget/ und nicht geringerer herrlichkeit theilhafftig ſind/ ja derſelben geſellſchafft ſich ſo viel mehr freuen werden/ weil ſie diejenige ſind/ welche ſie auch hier auff ihres HErrn befehl in ſo mancher gefahr be- ſchuͤtzet haben. Sie werden ſehen nicht nur diejenige/ welche ſie hier im fleiſch gekant und geliebet haben/ ſo viele derſelben in wahrem glauben ihnen vorge- gangen oder nachgefolget ſind/ an dem ſeligen ort der herrlichen zuſammen- kunfft/ wo auch die erinneꝛung der vorigen liebe die freude vermehꝛet/ ſondern alle kinder GOttes/ die von anbegin der welt gelebet/ und ſie unterſchiedli- cher davon nahmen gehoͤret/ auch dieſelben geliebet/ ja vor eine groſſe gluͤck- ſelig-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 872. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/880>, abgerufen am 23.11.2024.