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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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als ein derartiger Rhythmus wechselseitigen Sichablösens dar. So lässt
sich innerhalb der ökonomischen Wissenschaft das Verhältnis zwischen
der historischen und der auf allgemeine Gesetze ausgehenden Methode
auffassen. Gewiss ist jeder wirtschaftliche Vorgang nur aus einer be-
sonderen historisch-psychologischen Konstellation verständlich her-
zuleiten. Allein solche Herleitung geschieht immer unter der Voraus-
setzung bestimmter, gesetzmässiger Zusammenhänge; wenn wir nicht
oberhalb des einzelnen Falles allgemeine Verhältnisse, durchgängige
Triebe, regelmässige Wirkungsreihen zum Grunde legten, so würde es
gar keine historische Ableitung geben können, vielmehr das Ganze in
ein Chaos atomisierter Vorkommnisse auseinanderfallen. Nun kann
man aber weiterhin zugeben, dass jene allgemeinen Gesetzmässigkeiten,
die die Verbindung zwischen dem vorliegenden Zustand oder Ereignis
und seinen Bedingungen zu knüpfen ermöglichen, auch ihrerseits von
höheren Gesetzen abhängen, so dass sie selbst als nur historische Kom-
binationen gelten dürfen; zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse und
Kräfte haben die Dinge um und in uns in Formen gebracht, die, jetzt
als allgemein und überhistorisch gültig erscheinend, die zufälligen
Elemente der späteren Zeit zu deren besonderen Erscheinungen ge-
stalten. Während also diese beiden Methoden, dogmatisch festgelegt
und jede für sich die objektive Wahrheit beanspruchend, in einen
unversöhnlichen Konflikt und gegenseitige Negation geraten, wird ihnen
so in der Form der Alternierung ein organisches Ineinander ermöglicht:
jede wird in ein heuristisches Prinzip verwandelt, d. h. von jeder
verlangt, dass sie an jedem Punkte ihrer eigenen Anwendung ihre
höherinstanzliche Begründung in der anderen suche. Nicht anders steht
es mit dem allerallgemeinsten Gegensatz innerhalb unseres Er-
kennens: dem zwischen Apriori und Erfahrung. Dass alle Erfahrung
ausser ihren sinnlich-rezeptiven Elementen gewisse Formen zeigen
muss, die der Seele innewohnen und durch die sie jenes Gegebene
überhaupt zu Erkenntnissen gestaltet -- das wissen wir seit Kant.
Dieses, gleichsam von uns mitgebrachte Apriori muss deshalb für alle
möglichen Erkenntnisse absolut gelten und ist allem Wechsel und aller
Korrigierbarkeit der Erfahrung, als sinnlich und zufällig entstandener,
entzogen. Aber der Sicherheit, dass es derartige Normen geben muss,
entspricht keine ebenso grosse, welche denn es sind. Vieles, was eine
Zeit für apriori gehalten hat, ist von einer späteren als empirisches
und historisches Gebilde erkannt worden. Wenn also einerseits jeder
vorliegenden Erscheinung gegenüber die Aufgabe besteht, in ihr über
ihren sinnlich gegebenen Inhalt hinweg die dauernden apriorischen
Normen zu suchen, von denen sie geformt ist -- so steht dem die

als ein derartiger Rhythmus wechselseitigen Sichablösens dar. So läſst
sich innerhalb der ökonomischen Wissenschaft das Verhältnis zwischen
der historischen und der auf allgemeine Gesetze ausgehenden Methode
auffassen. Gewiſs ist jeder wirtschaftliche Vorgang nur aus einer be-
sonderen historisch-psychologischen Konstellation verständlich her-
zuleiten. Allein solche Herleitung geschieht immer unter der Voraus-
setzung bestimmter, gesetzmäſsiger Zusammenhänge; wenn wir nicht
oberhalb des einzelnen Falles allgemeine Verhältnisse, durchgängige
Triebe, regelmäſsige Wirkungsreihen zum Grunde legten, so würde es
gar keine historische Ableitung geben können, vielmehr das Ganze in
ein Chaos atomisierter Vorkommnisse auseinanderfallen. Nun kann
man aber weiterhin zugeben, daſs jene allgemeinen Gesetzmäſsigkeiten,
die die Verbindung zwischen dem vorliegenden Zustand oder Ereignis
und seinen Bedingungen zu knüpfen ermöglichen, auch ihrerseits von
höheren Gesetzen abhängen, so daſs sie selbst als nur historische Kom-
binationen gelten dürfen; zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse und
Kräfte haben die Dinge um und in uns in Formen gebracht, die, jetzt
als allgemein und überhistorisch gültig erscheinend, die zufälligen
Elemente der späteren Zeit zu deren besonderen Erscheinungen ge-
stalten. Während also diese beiden Methoden, dogmatisch festgelegt
und jede für sich die objektive Wahrheit beanspruchend, in einen
unversöhnlichen Konflikt und gegenseitige Negation geraten, wird ihnen
so in der Form der Alternierung ein organisches Ineinander ermöglicht:
jede wird in ein heuristisches Prinzip verwandelt, d. h. von jeder
verlangt, daſs sie an jedem Punkte ihrer eigenen Anwendung ihre
höherinstanzliche Begründung in der anderen suche. Nicht anders steht
es mit dem allerallgemeinsten Gegensatz innerhalb unseres Er-
kennens: dem zwischen Apriori und Erfahrung. Daſs alle Erfahrung
auſser ihren sinnlich-rezeptiven Elementen gewisse Formen zeigen
muſs, die der Seele innewohnen und durch die sie jenes Gegebene
überhaupt zu Erkenntnissen gestaltet — das wissen wir seit Kant.
Dieses, gleichsam von uns mitgebrachte Apriori muſs deshalb für alle
möglichen Erkenntnisse absolut gelten und ist allem Wechsel und aller
Korrigierbarkeit der Erfahrung, als sinnlich und zufällig entstandener,
entzogen. Aber der Sicherheit, daſs es derartige Normen geben muſs,
entspricht keine ebenso groſse, welche denn es sind. Vieles, was eine
Zeit für apriori gehalten hat, ist von einer späteren als empirisches
und historisches Gebilde erkannt worden. Wenn also einerseits jeder
vorliegenden Erscheinung gegenüber die Aufgabe besteht, in ihr über
ihren sinnlich gegebenen Inhalt hinweg die dauernden apriorischen
Normen zu suchen, von denen sie geformt ist — so steht dem die

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[71/0095] als ein derartiger Rhythmus wechselseitigen Sichablösens dar. So läſst sich innerhalb der ökonomischen Wissenschaft das Verhältnis zwischen der historischen und der auf allgemeine Gesetze ausgehenden Methode auffassen. Gewiſs ist jeder wirtschaftliche Vorgang nur aus einer be- sonderen historisch-psychologischen Konstellation verständlich her- zuleiten. Allein solche Herleitung geschieht immer unter der Voraus- setzung bestimmter, gesetzmäſsiger Zusammenhänge; wenn wir nicht oberhalb des einzelnen Falles allgemeine Verhältnisse, durchgängige Triebe, regelmäſsige Wirkungsreihen zum Grunde legten, so würde es gar keine historische Ableitung geben können, vielmehr das Ganze in ein Chaos atomisierter Vorkommnisse auseinanderfallen. Nun kann man aber weiterhin zugeben, daſs jene allgemeinen Gesetzmäſsigkeiten, die die Verbindung zwischen dem vorliegenden Zustand oder Ereignis und seinen Bedingungen zu knüpfen ermöglichen, auch ihrerseits von höheren Gesetzen abhängen, so daſs sie selbst als nur historische Kom- binationen gelten dürfen; zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse und Kräfte haben die Dinge um und in uns in Formen gebracht, die, jetzt als allgemein und überhistorisch gültig erscheinend, die zufälligen Elemente der späteren Zeit zu deren besonderen Erscheinungen ge- stalten. Während also diese beiden Methoden, dogmatisch festgelegt und jede für sich die objektive Wahrheit beanspruchend, in einen unversöhnlichen Konflikt und gegenseitige Negation geraten, wird ihnen so in der Form der Alternierung ein organisches Ineinander ermöglicht: jede wird in ein heuristisches Prinzip verwandelt, d. h. von jeder verlangt, daſs sie an jedem Punkte ihrer eigenen Anwendung ihre höherinstanzliche Begründung in der anderen suche. Nicht anders steht es mit dem allerallgemeinsten Gegensatz innerhalb unseres Er- kennens: dem zwischen Apriori und Erfahrung. Daſs alle Erfahrung auſser ihren sinnlich-rezeptiven Elementen gewisse Formen zeigen muſs, die der Seele innewohnen und durch die sie jenes Gegebene überhaupt zu Erkenntnissen gestaltet — das wissen wir seit Kant. Dieses, gleichsam von uns mitgebrachte Apriori muſs deshalb für alle möglichen Erkenntnisse absolut gelten und ist allem Wechsel und aller Korrigierbarkeit der Erfahrung, als sinnlich und zufällig entstandener, entzogen. Aber der Sicherheit, daſs es derartige Normen geben muſs, entspricht keine ebenso groſse, welche denn es sind. Vieles, was eine Zeit für apriori gehalten hat, ist von einer späteren als empirisches und historisches Gebilde erkannt worden. Wenn also einerseits jeder vorliegenden Erscheinung gegenüber die Aufgabe besteht, in ihr über ihren sinnlich gegebenen Inhalt hinweg die dauernden apriorischen Normen zu suchen, von denen sie geformt ist — so steht dem die

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/95>, abgerufen am 26.04.2024.