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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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ist nicht etwa auf die höchsten Allgemeinheiten beschränkt. Sucht man
das Verständnis der Gegenwart in politischen, sozialen, religiösen und
sonstigen Kulturhinsichten, so wird es nur auf historischem Wege zu
gewinnen sein, also durch Erkenntnis und Verständnis der Vergangen-
heit. Diese Vergangenheit selbst aber, von der uns nur Fragmente,
stumme Zeugen und mehr oder weniger unzuverlässige Berichte und
Traditionen überkommen sind, wird uns doch nur aus den Erfahrungen
unmittelbarer Gegenwart heraus deutbar und lebendig. Wie viele
Umbildungen und Quantitätsänderungen auch dazu erforderlich seien,
jedenfalls ist die Gegenwart, die uns der unentbehrliche Schlüssel für
die Vergangenheit ist, doch nur durch diese selbst verständlich, und
die Vergangenheit, die allein uns die Gegenwart verstehen lässt, ohne
die Anschauungen und Fühlbarkeiten eben dieser Gegenwart überhaupt
nicht zugängig. Alle historischen Bilder erzeugen sich in dieser
Gegenseitigkeit der Deutungselemente, von denen keines das andere
zur Ruhe kommen lässt: das abschliessende Begreifen ist in die Un-
endlichkeit hinaus verlegt, da jeder in der einen Reihe erreichte Punkt
uns zu seinem Verständnis an die andere verweist. Ähnlich verhält es
sich mit der psychologischen Erkenntnis. Jeder uns gegenüberstehende
Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender
und gestikulierender Automat; dass hinter dieser Wahrnehmbarkeit
eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir
ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschliessen,
das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Anderer-
seits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen
gross, ja die fundamentale Zerfällung des Ich in einen beobachtenden
und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhält-
nisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande. An
den Wesen ausser uns, die wir nur durch die Seelenkenntnis unser
selbst deuten können, muss sich demnach eben diese Kenntnis selbst
orientieren. So ist das Wissen um die seelischen Dinge ein Wechsel-
spiel zwischen dem Ich und dem Du, jedes weist von sich aus auf
das andere -- gleichsam ein stetes Auswechseln und Tauschen der
Elemente gegeneinander, in dem sich die Wahrheit nicht weniger als
der wirtschaftliche Wert erzeugt.

Ich füge hier nur noch zwei Beispiele an, eines sehr spezieller,
das andere sehr allgemeiner Art, in denen die Relativität, d. h. die
Gegenseitigkeit, in der sich Erkenntnisnormen ihre Bedeutung zu-
erteilen, entschiedener in die Form des Nacheinander, der Alternierung,
auseinandergezogen wird. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit von
Begriffen und tiefgelegenen Elementen des Weltbildes stellt sich häufig

ist nicht etwa auf die höchsten Allgemeinheiten beschränkt. Sucht man
das Verständnis der Gegenwart in politischen, sozialen, religiösen und
sonstigen Kulturhinsichten, so wird es nur auf historischem Wege zu
gewinnen sein, also durch Erkenntnis und Verständnis der Vergangen-
heit. Diese Vergangenheit selbst aber, von der uns nur Fragmente,
stumme Zeugen und mehr oder weniger unzuverlässige Berichte und
Traditionen überkommen sind, wird uns doch nur aus den Erfahrungen
unmittelbarer Gegenwart heraus deutbar und lebendig. Wie viele
Umbildungen und Quantitätsänderungen auch dazu erforderlich seien,
jedenfalls ist die Gegenwart, die uns der unentbehrliche Schlüssel für
die Vergangenheit ist, doch nur durch diese selbst verständlich, und
die Vergangenheit, die allein uns die Gegenwart verstehen läſst, ohne
die Anschauungen und Fühlbarkeiten eben dieser Gegenwart überhaupt
nicht zugängig. Alle historischen Bilder erzeugen sich in dieser
Gegenseitigkeit der Deutungselemente, von denen keines das andere
zur Ruhe kommen läſst: das abschlieſsende Begreifen ist in die Un-
endlichkeit hinaus verlegt, da jeder in der einen Reihe erreichte Punkt
uns zu seinem Verständnis an die andere verweist. Ähnlich verhält es
sich mit der psychologischen Erkenntnis. Jeder uns gegenüberstehende
Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender
und gestikulierender Automat; daſs hinter dieser Wahrnehmbarkeit
eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir
ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschlieſsen,
das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Anderer-
seits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen
groſs, ja die fundamentale Zerfällung des Ich in einen beobachtenden
und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhält-
nisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande. An
den Wesen auſser uns, die wir nur durch die Seelenkenntnis unser
selbst deuten können, muſs sich demnach eben diese Kenntnis selbst
orientieren. So ist das Wissen um die seelischen Dinge ein Wechsel-
spiel zwischen dem Ich und dem Du, jedes weist von sich aus auf
das andere — gleichsam ein stetes Auswechseln und Tauschen der
Elemente gegeneinander, in dem sich die Wahrheit nicht weniger als
der wirtschaftliche Wert erzeugt.

Ich füge hier nur noch zwei Beispiele an, eines sehr spezieller,
das andere sehr allgemeiner Art, in denen die Relativität, d. h. die
Gegenseitigkeit, in der sich Erkenntnisnormen ihre Bedeutung zu-
erteilen, entschiedener in die Form des Nacheinander, der Alternierung,
auseinandergezogen wird. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit von
Begriffen und tiefgelegenen Elementen des Weltbildes stellt sich häufig

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[70/0094] ist nicht etwa auf die höchsten Allgemeinheiten beschränkt. Sucht man das Verständnis der Gegenwart in politischen, sozialen, religiösen und sonstigen Kulturhinsichten, so wird es nur auf historischem Wege zu gewinnen sein, also durch Erkenntnis und Verständnis der Vergangen- heit. Diese Vergangenheit selbst aber, von der uns nur Fragmente, stumme Zeugen und mehr oder weniger unzuverlässige Berichte und Traditionen überkommen sind, wird uns doch nur aus den Erfahrungen unmittelbarer Gegenwart heraus deutbar und lebendig. Wie viele Umbildungen und Quantitätsänderungen auch dazu erforderlich seien, jedenfalls ist die Gegenwart, die uns der unentbehrliche Schlüssel für die Vergangenheit ist, doch nur durch diese selbst verständlich, und die Vergangenheit, die allein uns die Gegenwart verstehen läſst, ohne die Anschauungen und Fühlbarkeiten eben dieser Gegenwart überhaupt nicht zugängig. Alle historischen Bilder erzeugen sich in dieser Gegenseitigkeit der Deutungselemente, von denen keines das andere zur Ruhe kommen läſst: das abschlieſsende Begreifen ist in die Un- endlichkeit hinaus verlegt, da jeder in der einen Reihe erreichte Punkt uns zu seinem Verständnis an die andere verweist. Ähnlich verhält es sich mit der psychologischen Erkenntnis. Jeder uns gegenüberstehende Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender und gestikulierender Automat; daſs hinter dieser Wahrnehmbarkeit eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschlieſsen, das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Anderer- seits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen groſs, ja die fundamentale Zerfällung des Ich in einen beobachtenden und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhält- nisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande. An den Wesen auſser uns, die wir nur durch die Seelenkenntnis unser selbst deuten können, muſs sich demnach eben diese Kenntnis selbst orientieren. So ist das Wissen um die seelischen Dinge ein Wechsel- spiel zwischen dem Ich und dem Du, jedes weist von sich aus auf das andere — gleichsam ein stetes Auswechseln und Tauschen der Elemente gegeneinander, in dem sich die Wahrheit nicht weniger als der wirtschaftliche Wert erzeugt. Ich füge hier nur noch zwei Beispiele an, eines sehr spezieller, das andere sehr allgemeiner Art, in denen die Relativität, d. h. die Gegenseitigkeit, in der sich Erkenntnisnormen ihre Bedeutung zu- erteilen, entschiedener in die Form des Nacheinander, der Alternierung, auseinandergezogen wird. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit von Begriffen und tiefgelegenen Elementen des Weltbildes stellt sich häufig

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/94>, abgerufen am 26.04.2024.