satz nicht immer, wie in den bisherigen Beispielen, durch Einstellung in Entwicklungsgänge versöhnbar ist, sondern die dauernden Cha- raktere von Individuen und Gruppen abschliessend bezeichnet. Die systematische Lebensform ist nicht nur, wie ich schon hervorhob, die Technik zentralistischer Tendenzen, mögen sie despotischer oder sozialistischer Art sein, sondern sie gewinnt ausserdem einen Reiz für sich: die innere Ausgeglichenheit und äussere Geschlossenheit, die Harmonie der Teile und Berechenbarkeit ihrer Schicksale verleiht allen symmetrisch-systematischen Organisationen eine Anziehung, deren Wirkungen weit über alle Politik hinaus an unzähligen öffentlichen und privaten Interessen gestaltende Macht übt. Mit ihr sollen die indivi- duellen Zufälligkeiten des Daseins eine Einheit und Durchsichtigkeit er- halten, die sie zum Kunstwerk macht. Es handelt sich um den gleichen ästhetischen Reiz, wie ihn die Maschine auszuüben vermag. Die ab- solute Zweckmässigkeit und Zuverlässigkeit der Bewegungen, die äusserste Verminderung der Widerstände und Reibungen, das harmo- nische Ineinandergreifen der kleinsten und der grössten Bestandteile: das verleiht der Maschine selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine eigenartige Schönheit, die die Organisation einer Fabrik in erweitertem Masse wiederholt und die der sozialistische Staat im allerweitesten wieder- holen soll. Aber diesem Reize liegt, wie allem Ästhetischen, eine letzt- instanzliche Richtung und Bedeutsamkeit des Lebens zum Grunde, eine elementare Beschaffenheit der Seele, von der auch die ästhetische Anziehung oder Bewährung nur eine Erscheinung an äusserem Stoffe ist; wir haben jene nicht eigentlich, wie wir ihre Ausgestaltungen im Material des Lebens: ästhetische, sittliche, soziale, intellektuelle, eudä- monistische, haben, sondern wir sind sie. Diese äussersten Ent- scheidungen der menschlichen Naturen sind mit Worten nicht zu be- zeichnen, sondern sie sind nur aus jenen einzelnen Darstellungen ihrer als deren letzte Triebkräfte und Direktiven herauszufühlen. Darum ist der Reiz der entgegengesetzten Lebensform ebenso indiskutabel, in dessen Empfinden sich die aristokratischen und die individualistischen Tendenzen -- in welcher Provinz unserer Interessen sie auch auf- treten mögen -- begegnen. Die historischen Aristokratien vermeiden gern die Systematik, die generelle Formung, die den Einzelnen in ein ihm äusseres Schema einstellt, jedes Gebilde -- politischer, sozialer, sachlicher, personaler Art -- soll sich, gemäss der echt aristokratischen Empfindung, als eigenartiges in sich zusammenschliessen und bewähren. Der aristokratische Liberalismus des englischen Lebens findet deshalb in der Asymmetrie, in der Befreiung des individuellen Falles von der Präjudizierung durch sein Pendant, den typischsten und gleichsam
satz nicht immer, wie in den bisherigen Beispielen, durch Einstellung in Entwicklungsgänge versöhnbar ist, sondern die dauernden Cha- raktere von Individuen und Gruppen abschlieſsend bezeichnet. Die systematische Lebensform ist nicht nur, wie ich schon hervorhob, die Technik zentralistischer Tendenzen, mögen sie despotischer oder sozialistischer Art sein, sondern sie gewinnt auſserdem einen Reiz für sich: die innere Ausgeglichenheit und äuſsere Geschlossenheit, die Harmonie der Teile und Berechenbarkeit ihrer Schicksale verleiht allen symmetrisch-systematischen Organisationen eine Anziehung, deren Wirkungen weit über alle Politik hinaus an unzähligen öffentlichen und privaten Interessen gestaltende Macht übt. Mit ihr sollen die indivi- duellen Zufälligkeiten des Daseins eine Einheit und Durchsichtigkeit er- halten, die sie zum Kunstwerk macht. Es handelt sich um den gleichen ästhetischen Reiz, wie ihn die Maschine auszuüben vermag. Die ab- solute Zweckmäſsigkeit und Zuverlässigkeit der Bewegungen, die äuſserste Verminderung der Widerstände und Reibungen, das harmo- nische Ineinandergreifen der kleinsten und der gröſsten Bestandteile: das verleiht der Maschine selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine eigenartige Schönheit, die die Organisation einer Fabrik in erweitertem Maſse wiederholt und die der sozialistische Staat im allerweitesten wieder- holen soll. Aber diesem Reize liegt, wie allem Ästhetischen, eine letzt- instanzliche Richtung und Bedeutsamkeit des Lebens zum Grunde, eine elementare Beschaffenheit der Seele, von der auch die ästhetische Anziehung oder Bewährung nur eine Erscheinung an äuſserem Stoffe ist; wir haben jene nicht eigentlich, wie wir ihre Ausgestaltungen im Material des Lebens: ästhetische, sittliche, soziale, intellektuelle, eudä- monistische, haben, sondern wir sind sie. Diese äuſsersten Ent- scheidungen der menschlichen Naturen sind mit Worten nicht zu be- zeichnen, sondern sie sind nur aus jenen einzelnen Darstellungen ihrer als deren letzte Triebkräfte und Direktiven herauszufühlen. Darum ist der Reiz der entgegengesetzten Lebensform ebenso indiskutabel, in dessen Empfinden sich die aristokratischen und die individualistischen Tendenzen — in welcher Provinz unserer Interessen sie auch auf- treten mögen — begegnen. Die historischen Aristokratien vermeiden gern die Systematik, die generelle Formung, die den Einzelnen in ein ihm äuſseres Schema einstellt, jedes Gebilde — politischer, sozialer, sachlicher, personaler Art — soll sich, gemäſs der echt aristokratischen Empfindung, als eigenartiges in sich zusammenschlieſsen und bewähren. Der aristokratische Liberalismus des englischen Lebens findet deshalb in der Asymmetrie, in der Befreiung des individuellen Falles von der Präjudizierung durch sein Pendant, den typischsten und gleichsam
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[532/0556]
satz nicht immer, wie in den bisherigen Beispielen, durch Einstellung
in Entwicklungsgänge versöhnbar ist, sondern die dauernden Cha-
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systematische Lebensform ist nicht nur, wie ich schon hervorhob, die
Technik zentralistischer Tendenzen, mögen sie despotischer oder
sozialistischer Art sein, sondern sie gewinnt auſserdem einen Reiz für
sich: die innere Ausgeglichenheit und äuſsere Geschlossenheit, die
Harmonie der Teile und Berechenbarkeit ihrer Schicksale verleiht
allen symmetrisch-systematischen Organisationen eine Anziehung, deren
Wirkungen weit über alle Politik hinaus an unzähligen öffentlichen und
privaten Interessen gestaltende Macht übt. Mit ihr sollen die indivi-
duellen Zufälligkeiten des Daseins eine Einheit und Durchsichtigkeit er-
halten, die sie zum Kunstwerk macht. Es handelt sich um den gleichen
ästhetischen Reiz, wie ihn die Maschine auszuüben vermag. Die ab-
solute Zweckmäſsigkeit und Zuverlässigkeit der Bewegungen, die
äuſserste Verminderung der Widerstände und Reibungen, das harmo-
nische Ineinandergreifen der kleinsten und der gröſsten Bestandteile:
das verleiht der Maschine selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine
eigenartige Schönheit, die die Organisation einer Fabrik in erweitertem
Maſse wiederholt und die der sozialistische Staat im allerweitesten wieder-
holen soll. Aber diesem Reize liegt, wie allem Ästhetischen, eine letzt-
instanzliche Richtung und Bedeutsamkeit des Lebens zum Grunde,
eine elementare Beschaffenheit der Seele, von der auch die ästhetische
Anziehung oder Bewährung nur eine Erscheinung an äuſserem Stoffe
ist; wir haben jene nicht eigentlich, wie wir ihre Ausgestaltungen im
Material des Lebens: ästhetische, sittliche, soziale, intellektuelle, eudä-
monistische, haben, sondern wir sind sie. Diese äuſsersten Ent-
scheidungen der menschlichen Naturen sind mit Worten nicht zu be-
zeichnen, sondern sie sind nur aus jenen einzelnen Darstellungen ihrer
als deren letzte Triebkräfte und Direktiven herauszufühlen. Darum
ist der Reiz der entgegengesetzten Lebensform ebenso indiskutabel, in
dessen Empfinden sich die aristokratischen und die individualistischen
Tendenzen — in welcher Provinz unserer Interessen sie auch auf-
treten mögen — begegnen. Die historischen Aristokratien vermeiden
gern die Systematik, die generelle Formung, die den Einzelnen in ein
ihm äuſseres Schema einstellt, jedes Gebilde — politischer, sozialer,
sachlicher, personaler Art — soll sich, gemäſs der echt aristokratischen
Empfindung, als eigenartiges in sich zusammenschlieſsen und bewähren.
Der aristokratische Liberalismus des englischen Lebens findet deshalb in
der Asymmetrie, in der Befreiung des individuellen Falles von der
Präjudizierung durch sein Pendant, den typischsten und gleichsam
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/556>, abgerufen am 27.11.2024.
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