organischsten Ausdruck seiner innersten Motive. Ganz direkt hebt Macaulay, der begeisterte Liberale, dies als die eigentliche Stärke des englischen Verfassungslebens hervor. "Wir denken", so sagt er, "gar nicht an die Symmetrie, aber sehr an die Zweckmässigkeit; wir ent- fernen niemals eine Anomalie, bloss weil sie eine Anomalie ist; wir stellen keine Normen von weiterem Umfang auf, als es der besondere Fall, um den es sich grade handelt, erfordert. Das sind die Regeln, die im ganzen, vom König Johann bis zur Königin Viktoria, die Er- wägungen unserer 250 Parlamente geleitet haben." Hier wird also das Ideal der Symmetrie und logischen Abrundung, die allem Einzelnen von einem Punkte aus seinen Sinn giebt, zu gunsten jenes anderen verworfen, das jedes Element sich nach seinen eignen Bedingungen unabhängig ausleben und so natürlich das Ganze eine regellose und ungleichartige Erscheinung darbieten lässt. Und es ist ersichtlich, wie tief in die persönlichen Lebensstile dieser Gegensatz heruntersteigt, Auf der einen Seite die Systematisierung des Lebens: seine einzelnen Provinzen harmonisch um einen Mittelpunkt geordnet, alle Interessen sorgfältig abgestuft und jeder Inhalt eines solchen nur soweit zugelassen, wie das ganze System es vorzeichnet; die einzelnen Bethätigungen regelmässig abwechselnd, zwischen Aktivitäten und Pausen ein fest- gestellter Turnus, kurz im Nebeneinander wie im Nacheinander eine Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedürf- nisse, Kraftentladungen und Stimmungen, noch dem Zufall äusserer Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung trägt -- dafür aber eine Existenzform eintauscht, die ihrer selbst dadurch völlig sicher ist, dass sie überhaupt nichts in das Leben hineinzulassen strebt, was ihr nicht gemäss ist oder was sie nicht zu ihrem System passend um- arbeiten kann. Auf der anderen Seite: die Formung des Lebens von Fall zu Fall, die innere Gegebenheit jedes Augenblickes mit den koinzidierenden Gegebenheiten der Aussenwelt in das möglichst günstige Verhältnis gesetzt, eine ununterbrochne Bereitheit zum Empfinden und Handeln zugleich mit einem steten Hinhören auf das Eigenleben der Dinge, um ihren Darbietungen und Forderungen, wann immer sie eintreten gerecht zu werden. Damit ist freilich die Berechenbarkeit und sichere Abgewogenheit des Lebens preisgegeben, sein Stil im engeren Sinne, das Leben wird nicht von Ideen beherrscht, die in ihrer Anwendung auf sein Material sich immer zu einer Systematik und festen Rhyth- mik ausbreiten, sondern von seinen individuellen Elementen aus wird es gestaltet, unbekümmert um die Symmetrie seines Gesamtbildes, die hier nur als Zwang, aber nicht als Reiz empfunden würde. -- Es ist das Wesen der Symmetrie, dass jedes Element eines Ganzen nur mit
organischsten Ausdruck seiner innersten Motive. Ganz direkt hebt Macaulay, der begeisterte Liberale, dies als die eigentliche Stärke des englischen Verfassungslebens hervor. „Wir denken“, so sagt er, „gar nicht an die Symmetrie, aber sehr an die Zweckmäſsigkeit; wir ent- fernen niemals eine Anomalie, bloſs weil sie eine Anomalie ist; wir stellen keine Normen von weiterem Umfang auf, als es der besondere Fall, um den es sich grade handelt, erfordert. Das sind die Regeln, die im ganzen, vom König Johann bis zur Königin Viktoria, die Er- wägungen unserer 250 Parlamente geleitet haben.“ Hier wird also das Ideal der Symmetrie und logischen Abrundung, die allem Einzelnen von einem Punkte aus seinen Sinn giebt, zu gunsten jenes anderen verworfen, das jedes Element sich nach seinen eignen Bedingungen unabhängig ausleben und so natürlich das Ganze eine regellose und ungleichartige Erscheinung darbieten läſst. Und es ist ersichtlich, wie tief in die persönlichen Lebensstile dieser Gegensatz heruntersteigt, Auf der einen Seite die Systematisierung des Lebens: seine einzelnen Provinzen harmonisch um einen Mittelpunkt geordnet, alle Interessen sorgfältig abgestuft und jeder Inhalt eines solchen nur soweit zugelassen, wie das ganze System es vorzeichnet; die einzelnen Bethätigungen regelmäſsig abwechselnd, zwischen Aktivitäten und Pausen ein fest- gestellter Turnus, kurz im Nebeneinander wie im Nacheinander eine Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedürf- nisse, Kraftentladungen und Stimmungen, noch dem Zufall äuſserer Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung trägt — dafür aber eine Existenzform eintauscht, die ihrer selbst dadurch völlig sicher ist, daſs sie überhaupt nichts in das Leben hineinzulassen strebt, was ihr nicht gemäſs ist oder was sie nicht zu ihrem System passend um- arbeiten kann. Auf der anderen Seite: die Formung des Lebens von Fall zu Fall, die innere Gegebenheit jedes Augenblickes mit den koinzidierenden Gegebenheiten der Auſsenwelt in das möglichst günstige Verhältnis gesetzt, eine ununterbrochne Bereitheit zum Empfinden und Handeln zugleich mit einem steten Hinhören auf das Eigenleben der Dinge, um ihren Darbietungen und Forderungen, wann immer sie eintreten gerecht zu werden. Damit ist freilich die Berechenbarkeit und sichere Abgewogenheit des Lebens preisgegeben, sein Stil im engeren Sinne, das Leben wird nicht von Ideen beherrscht, die in ihrer Anwendung auf sein Material sich immer zu einer Systematik und festen Rhyth- mik ausbreiten, sondern von seinen individuellen Elementen aus wird es gestaltet, unbekümmert um die Symmetrie seines Gesamtbildes, die hier nur als Zwang, aber nicht als Reiz empfunden würde. — Es ist das Wesen der Symmetrie, daſs jedes Element eines Ganzen nur mit
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[533/0557]
organischsten Ausdruck seiner innersten Motive. Ganz direkt hebt
Macaulay, der begeisterte Liberale, dies als die eigentliche Stärke des
englischen Verfassungslebens hervor. „Wir denken“, so sagt er, „gar
nicht an die Symmetrie, aber sehr an die Zweckmäſsigkeit; wir ent-
fernen niemals eine Anomalie, bloſs weil sie eine Anomalie ist; wir
stellen keine Normen von weiterem Umfang auf, als es der besondere
Fall, um den es sich grade handelt, erfordert. Das sind die Regeln,
die im ganzen, vom König Johann bis zur Königin Viktoria, die Er-
wägungen unserer 250 Parlamente geleitet haben.“ Hier wird also
das Ideal der Symmetrie und logischen Abrundung, die allem Einzelnen
von einem Punkte aus seinen Sinn giebt, zu gunsten jenes anderen
verworfen, das jedes Element sich nach seinen eignen Bedingungen
unabhängig ausleben und so natürlich das Ganze eine regellose und
ungleichartige Erscheinung darbieten läſst. Und es ist ersichtlich,
wie tief in die persönlichen Lebensstile dieser Gegensatz heruntersteigt,
Auf der einen Seite die Systematisierung des Lebens: seine einzelnen
Provinzen harmonisch um einen Mittelpunkt geordnet, alle Interessen
sorgfältig abgestuft und jeder Inhalt eines solchen nur soweit zugelassen,
wie das ganze System es vorzeichnet; die einzelnen Bethätigungen
regelmäſsig abwechselnd, zwischen Aktivitäten und Pausen ein fest-
gestellter Turnus, kurz im Nebeneinander wie im Nacheinander eine
Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedürf-
nisse, Kraftentladungen und Stimmungen, noch dem Zufall äuſserer
Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung trägt — dafür aber
eine Existenzform eintauscht, die ihrer selbst dadurch völlig sicher
ist, daſs sie überhaupt nichts in das Leben hineinzulassen strebt, was
ihr nicht gemäſs ist oder was sie nicht zu ihrem System passend um-
arbeiten kann. Auf der anderen Seite: die Formung des Lebens von
Fall zu Fall, die innere Gegebenheit jedes Augenblickes mit den
koinzidierenden Gegebenheiten der Auſsenwelt in das möglichst günstige
Verhältnis gesetzt, eine ununterbrochne Bereitheit zum Empfinden und
Handeln zugleich mit einem steten Hinhören auf das Eigenleben der Dinge,
um ihren Darbietungen und Forderungen, wann immer sie eintreten
gerecht zu werden. Damit ist freilich die Berechenbarkeit und sichere
Abgewogenheit des Lebens preisgegeben, sein Stil im engeren Sinne,
das Leben wird nicht von Ideen beherrscht, die in ihrer Anwendung
auf sein Material sich immer zu einer Systematik und festen Rhyth-
mik ausbreiten, sondern von seinen individuellen Elementen aus wird es
gestaltet, unbekümmert um die Symmetrie seines Gesamtbildes, die
hier nur als Zwang, aber nicht als Reiz empfunden würde. — Es ist
das Wesen der Symmetrie, daſs jedes Element eines Ganzen nur mit
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/557>, abgerufen am 27.11.2024.
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