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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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ginge -- das Vergehen der Zeit vielmehr, d. h. das als Durchschnitt
erfahrene und empfundene Tempo der Ereignisse überhaupt ist die
messende Grösse, an der sich die Schnelligkeit oder Langsamkeit der
einzelnen Zeitabschnitte ergiebt, ohne dass dieser Durchschnitt selbst
schnell oder langsam wäre. So also ist die Behauptung des Pessimis-
mus, dass der Durchschnitt des Menschenlebens mehr Leid als Lust
aufweise, ebenso methodisch unmöglich wie der des Optimismus, dass
er mehr Lust als Leid einschliesse; das Empfundenwerden der Gesamt-
quanten von Lust und Leid (oder, anders ausgedrückt, ihres auf das
Individuum oder die Zeitperiode entfallenden Durchschnitts) ist das
Urphänomen, dessen Seiten nicht miteinander verglichen werden können,
weil es dazu eines ausserhalb beider gelegenen und sie gleichmässig
umfassenden Massstabes bedürfte.

Der Typus des Erkennens, um den es sich hier handelt, dürfte
so hinreichend charakterisiert sein. Innerhalb der angeführten und
mancher anderen Gebiete sind die primären, sie bildenden Elemente
an sich unvergleichbar, weil sie von verschiedener Qualität sind, also
nicht aneinander oder an einem dritten gemessen werden können.
Nun aber bildet die Thatsache, dass das eine Element eben in diesem,
das andere in jenem Masse vorhanden ist, ihrerseits den Massstab für
die Beurteilung des singulären und partiellen Falles, Ereignisses,
Problemes, in dem beiderlei Elemente mitwirken. Indem die Elemente
des einzelnen Vorkommnisses die Proportion der Gesamtquanten wieder-
holen, haben sie das "richtige", d. h. das normale, durchschnittliche,
typische Verhältnis, während die Abweichung davon als "Übergewicht"
des einen Elementes, als "Unverhältnismässigkeit" erscheint. An und
für sich besitzen natürlich diese Elemente der Einzelfälle so wenig ein
Verhältnis von Richtigkeit oder Falschheit, Gleichheit oder Ungleich-
heit, wie ihre Gesamtheiten es haben; sie gewinnen es vielmehr erst
dadurch, dass die Masse der Gesamtquanten das Absolute bilden, nach
dem das Einzelne, als das Relative, geschätzt wird; das Absolute selbst
aber unterliegt nicht den Bestimmungen der Vergleichbarkeit, die es
seinerseits dem Relativen ermöglicht. -- Diesem Typus könnte nun
das Verhältnis zwischen dem Verkaufsobjekt und seinem Geldpreis an-
gehören. Vielleicht haben beide inhaltlich gar nichts miteinander
gemeinsam, sind qualitativ so ungleich, dass sie quantitativ unvergleich-
bar sind. Allein da nun einmal alles Verkäufliche und alles Geld
zusammen einen ökonomischen Kosmos ausmachen, so könnte der Preis
einer Ware der "entsprechende" sein, wenn er denjenigen Teil des
wirksamen Gesamtgeldquantums darstellt, den die Ware von dem wirk-
samen Gesamtwarenquantum ausmacht. Nicht der gleiche "Wert" in

ginge — das Vergehen der Zeit vielmehr, d. h. das als Durchschnitt
erfahrene und empfundene Tempo der Ereignisse überhaupt ist die
messende Gröſse, an der sich die Schnelligkeit oder Langsamkeit der
einzelnen Zeitabschnitte ergiebt, ohne daſs dieser Durchschnitt selbst
schnell oder langsam wäre. So also ist die Behauptung des Pessimis-
mus, daſs der Durchschnitt des Menschenlebens mehr Leid als Lust
aufweise, ebenso methodisch unmöglich wie der des Optimismus, daſs
er mehr Lust als Leid einschlieſse; das Empfundenwerden der Gesamt-
quanten von Lust und Leid (oder, anders ausgedrückt, ihres auf das
Individuum oder die Zeitperiode entfallenden Durchschnitts) ist das
Urphänomen, dessen Seiten nicht miteinander verglichen werden können,
weil es dazu eines auſserhalb beider gelegenen und sie gleichmäſsig
umfassenden Maſsstabes bedürfte.

Der Typus des Erkennens, um den es sich hier handelt, dürfte
so hinreichend charakterisiert sein. Innerhalb der angeführten und
mancher anderen Gebiete sind die primären, sie bildenden Elemente
an sich unvergleichbar, weil sie von verschiedener Qualität sind, also
nicht aneinander oder an einem dritten gemessen werden können.
Nun aber bildet die Thatsache, daſs das eine Element eben in diesem,
das andere in jenem Maſse vorhanden ist, ihrerseits den Maſsstab für
die Beurteilung des singulären und partiellen Falles, Ereignisses,
Problemes, in dem beiderlei Elemente mitwirken. Indem die Elemente
des einzelnen Vorkommnisses die Proportion der Gesamtquanten wieder-
holen, haben sie das „richtige“, d. h. das normale, durchschnittliche,
typische Verhältnis, während die Abweichung davon als „Übergewicht“
des einen Elementes, als „Unverhältnismäſsigkeit“ erscheint. An und
für sich besitzen natürlich diese Elemente der Einzelfälle so wenig ein
Verhältnis von Richtigkeit oder Falschheit, Gleichheit oder Ungleich-
heit, wie ihre Gesamtheiten es haben; sie gewinnen es vielmehr erst
dadurch, daſs die Maſse der Gesamtquanten das Absolute bilden, nach
dem das Einzelne, als das Relative, geschätzt wird; das Absolute selbst
aber unterliegt nicht den Bestimmungen der Vergleichbarkeit, die es
seinerseits dem Relativen ermöglicht. — Diesem Typus könnte nun
das Verhältnis zwischen dem Verkaufsobjekt und seinem Geldpreis an-
gehören. Vielleicht haben beide inhaltlich gar nichts miteinander
gemeinsam, sind qualitativ so ungleich, daſs sie quantitativ unvergleich-
bar sind. Allein da nun einmal alles Verkäufliche und alles Geld
zusammen einen ökonomischen Kosmos ausmachen, so könnte der Preis
einer Ware der „entsprechende“ sein, wenn er denjenigen Teil des
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samen Gesamtwarenquantum ausmacht. Nicht der gleiche „Wert“ in

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[100/0124] ginge — das Vergehen der Zeit vielmehr, d. h. das als Durchschnitt erfahrene und empfundene Tempo der Ereignisse überhaupt ist die messende Gröſse, an der sich die Schnelligkeit oder Langsamkeit der einzelnen Zeitabschnitte ergiebt, ohne daſs dieser Durchschnitt selbst schnell oder langsam wäre. So also ist die Behauptung des Pessimis- mus, daſs der Durchschnitt des Menschenlebens mehr Leid als Lust aufweise, ebenso methodisch unmöglich wie der des Optimismus, daſs er mehr Lust als Leid einschlieſse; das Empfundenwerden der Gesamt- quanten von Lust und Leid (oder, anders ausgedrückt, ihres auf das Individuum oder die Zeitperiode entfallenden Durchschnitts) ist das Urphänomen, dessen Seiten nicht miteinander verglichen werden können, weil es dazu eines auſserhalb beider gelegenen und sie gleichmäſsig umfassenden Maſsstabes bedürfte. Der Typus des Erkennens, um den es sich hier handelt, dürfte so hinreichend charakterisiert sein. Innerhalb der angeführten und mancher anderen Gebiete sind die primären, sie bildenden Elemente an sich unvergleichbar, weil sie von verschiedener Qualität sind, also nicht aneinander oder an einem dritten gemessen werden können. Nun aber bildet die Thatsache, daſs das eine Element eben in diesem, das andere in jenem Maſse vorhanden ist, ihrerseits den Maſsstab für die Beurteilung des singulären und partiellen Falles, Ereignisses, Problemes, in dem beiderlei Elemente mitwirken. Indem die Elemente des einzelnen Vorkommnisses die Proportion der Gesamtquanten wieder- holen, haben sie das „richtige“, d. h. das normale, durchschnittliche, typische Verhältnis, während die Abweichung davon als „Übergewicht“ des einen Elementes, als „Unverhältnismäſsigkeit“ erscheint. An und für sich besitzen natürlich diese Elemente der Einzelfälle so wenig ein Verhältnis von Richtigkeit oder Falschheit, Gleichheit oder Ungleich- heit, wie ihre Gesamtheiten es haben; sie gewinnen es vielmehr erst dadurch, daſs die Maſse der Gesamtquanten das Absolute bilden, nach dem das Einzelne, als das Relative, geschätzt wird; das Absolute selbst aber unterliegt nicht den Bestimmungen der Vergleichbarkeit, die es seinerseits dem Relativen ermöglicht. — Diesem Typus könnte nun das Verhältnis zwischen dem Verkaufsobjekt und seinem Geldpreis an- gehören. Vielleicht haben beide inhaltlich gar nichts miteinander gemeinsam, sind qualitativ so ungleich, daſs sie quantitativ unvergleich- bar sind. Allein da nun einmal alles Verkäufliche und alles Geld zusammen einen ökonomischen Kosmos ausmachen, so könnte der Preis einer Ware der „entsprechende“ sein, wenn er denjenigen Teil des wirksamen Gesamtgeldquantums darstellt, den die Ware von dem wirk- samen Gesamtwarenquantum ausmacht. Nicht der gleiche „Wert“ in

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/124>, abgerufen am 29.03.2024.