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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Zweckmässigkeit oder Unzweckmässigkeit, nicht aber um Wahrheit im
Sinne einer logischen Erweislichkeit handeln kann. Dieses Verhältnis der
Totalitäten zu einander hat gewissermassen die Bedeutung eines Axioms,
das gar nicht in demselben Sinne wahr ist, wie die einzelnen Sätze,
die sich auf dasselbe gründen; nur diese sind beweisbar, während jenes
auf nichts hinweisen kann, von dem es sich logisch herleite. Eine
methodische Norm von grosser Bedeutsamkeit kommt hier zur Geltung,
für die ich ein Beispiel aus einer ganz anderen Kategorie von Werten
anführen will. Die Grundbehauptung des Pessimismus ist, dass die
Gesamtheit des Seins einen erheblichen Überschuss der Leiden über
die Freuden aufweise; die Welt der Lebewesen, als eine Einheit be-
trachtet, oder auch der Durchschnitt derselben, empfinde sehr viel mehr
Schmerz als Lust. Eine solche Behauptung ist nun von vornherein
unmöglich. Denn sie setzt voraus, dass man Lust und Schmerz, wie
qualitativ gleiche Grössen mit entgegengesetztem Vorzeichen, unmittel-
bar gegeneinander abwägen und aufrechnen könne. Das kann man aber
in Wirklichkeit nicht, da es keinen gemeinsamen Massstab für sie giebt.
Keinem Quantum Leid kann es an und für sich anempfunden werden,
ein wie grosses Quantum Freude dazu gehört, um es aufzuwiegen.
Wie kommt es, dass dennoch solche Abmessungen in einem fort statt-
finden, dass wir sowohl in den Angelegenheiten des Tages, wie in dem
Zusammenhang der Schicksale, wie in der Gesamtheit des Einzellebens
das Urteil fällen, das Freudenmass sei hinter dem Mass der Schmerzen
zurückgeblieben, oder habe es überschritten? Das ist nicht anders
möglich, als dass die Erfahrung des Lebens uns -- genauer oder un-
genauer -- darüber belehrt, wie Glück und Unglück thatsächlich ver-
teilt sind, wieviel Leid im Durchschnitt hingenommen werden muss,
um ein gewisses Lustquantum damit zu erkaufen, und wieviel von beiden
das typische Menschenlos aufweist. Erst wenn hierüber irgend eine
Vorstellung besteht, wie unbewusst und unbestimmt auch immer, kann man
sagen, dass in einem einzelnen Falle ein Genuss zu teuer, d. h. mit
einem grossen Leidquantum -- erkauft ist, oder dass ein einzelnes
Menschenschicksal einen Überschuss von Schmerzen über seine Freuden
zeige. Jener Durchschnitt selbst ist aber nicht "unverhältnismässig",
weil er vielmehr dasjenige ist, woran sich das Verhältnis der Empfin-
dungen im einzelnen Falle erst als ein angemessenes oder unangemessenes
bestimmt -- so wenig wie man sagen kann, der Durchschnitt der
Menschen wäre gross oder klein, da dieser Durchschnitt ja erst den
Massstab abgiebt, an dem der einzelne Mensch -- als welcher allein
gross oder klein sein kann -- sich misst; ebenso, wie man nur sehr
missverständlich sagen kann, dass "die Zeit" schnell oder langsam ver-

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Zweckmäſsigkeit oder Unzweckmäſsigkeit, nicht aber um Wahrheit im
Sinne einer logischen Erweislichkeit handeln kann. Dieses Verhältnis der
Totalitäten zu einander hat gewissermaſsen die Bedeutung eines Axioms,
das gar nicht in demselben Sinne wahr ist, wie die einzelnen Sätze,
die sich auf dasselbe gründen; nur diese sind beweisbar, während jenes
auf nichts hinweisen kann, von dem es sich logisch herleite. Eine
methodische Norm von groſser Bedeutsamkeit kommt hier zur Geltung,
für die ich ein Beispiel aus einer ganz anderen Kategorie von Werten
anführen will. Die Grundbehauptung des Pessimismus ist, daſs die
Gesamtheit des Seins einen erheblichen Überschuſs der Leiden über
die Freuden aufweise; die Welt der Lebewesen, als eine Einheit be-
trachtet, oder auch der Durchschnitt derselben, empfinde sehr viel mehr
Schmerz als Lust. Eine solche Behauptung ist nun von vornherein
unmöglich. Denn sie setzt voraus, daſs man Lust und Schmerz, wie
qualitativ gleiche Gröſsen mit entgegengesetztem Vorzeichen, unmittel-
bar gegeneinander abwägen und aufrechnen könne. Das kann man aber
in Wirklichkeit nicht, da es keinen gemeinsamen Maſsstab für sie giebt.
Keinem Quantum Leid kann es an und für sich anempfunden werden,
ein wie groſses Quantum Freude dazu gehört, um es aufzuwiegen.
Wie kommt es, daſs dennoch solche Abmessungen in einem fort statt-
finden, daſs wir sowohl in den Angelegenheiten des Tages, wie in dem
Zusammenhang der Schicksale, wie in der Gesamtheit des Einzellebens
das Urteil fällen, das Freudenmaſs sei hinter dem Maſs der Schmerzen
zurückgeblieben, oder habe es überschritten? Das ist nicht anders
möglich, als daſs die Erfahrung des Lebens uns — genauer oder un-
genauer — darüber belehrt, wie Glück und Unglück thatsächlich ver-
teilt sind, wieviel Leid im Durchschnitt hingenommen werden muſs,
um ein gewisses Lustquantum damit zu erkaufen, und wieviel von beiden
das typische Menschenlos aufweist. Erst wenn hierüber irgend eine
Vorstellung besteht, wie unbewuſst und unbestimmt auch immer, kann man
sagen, daſs in einem einzelnen Falle ein Genuſs zu teuer, d. h. mit
einem groſsen Leidquantum — erkauft ist, oder daſs ein einzelnes
Menschenschicksal einen Überschuſs von Schmerzen über seine Freuden
zeige. Jener Durchschnitt selbst ist aber nicht „unverhältnismäſsig“,
weil er vielmehr dasjenige ist, woran sich das Verhältnis der Empfin-
dungen im einzelnen Falle erst als ein angemessenes oder unangemessenes
bestimmt — so wenig wie man sagen kann, der Durchschnitt der
Menschen wäre groſs oder klein, da dieser Durchschnitt ja erst den
Maſsstab abgiebt, an dem der einzelne Mensch — als welcher allein
groſs oder klein sein kann — sich miſst; ebenso, wie man nur sehr
miſsverständlich sagen kann, daſs „die Zeit“ schnell oder langsam ver-

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[99/0123] Zweckmäſsigkeit oder Unzweckmäſsigkeit, nicht aber um Wahrheit im Sinne einer logischen Erweislichkeit handeln kann. Dieses Verhältnis der Totalitäten zu einander hat gewissermaſsen die Bedeutung eines Axioms, das gar nicht in demselben Sinne wahr ist, wie die einzelnen Sätze, die sich auf dasselbe gründen; nur diese sind beweisbar, während jenes auf nichts hinweisen kann, von dem es sich logisch herleite. Eine methodische Norm von groſser Bedeutsamkeit kommt hier zur Geltung, für die ich ein Beispiel aus einer ganz anderen Kategorie von Werten anführen will. Die Grundbehauptung des Pessimismus ist, daſs die Gesamtheit des Seins einen erheblichen Überschuſs der Leiden über die Freuden aufweise; die Welt der Lebewesen, als eine Einheit be- trachtet, oder auch der Durchschnitt derselben, empfinde sehr viel mehr Schmerz als Lust. Eine solche Behauptung ist nun von vornherein unmöglich. Denn sie setzt voraus, daſs man Lust und Schmerz, wie qualitativ gleiche Gröſsen mit entgegengesetztem Vorzeichen, unmittel- bar gegeneinander abwägen und aufrechnen könne. Das kann man aber in Wirklichkeit nicht, da es keinen gemeinsamen Maſsstab für sie giebt. Keinem Quantum Leid kann es an und für sich anempfunden werden, ein wie groſses Quantum Freude dazu gehört, um es aufzuwiegen. Wie kommt es, daſs dennoch solche Abmessungen in einem fort statt- finden, daſs wir sowohl in den Angelegenheiten des Tages, wie in dem Zusammenhang der Schicksale, wie in der Gesamtheit des Einzellebens das Urteil fällen, das Freudenmaſs sei hinter dem Maſs der Schmerzen zurückgeblieben, oder habe es überschritten? Das ist nicht anders möglich, als daſs die Erfahrung des Lebens uns — genauer oder un- genauer — darüber belehrt, wie Glück und Unglück thatsächlich ver- teilt sind, wieviel Leid im Durchschnitt hingenommen werden muſs, um ein gewisses Lustquantum damit zu erkaufen, und wieviel von beiden das typische Menschenlos aufweist. Erst wenn hierüber irgend eine Vorstellung besteht, wie unbewuſst und unbestimmt auch immer, kann man sagen, daſs in einem einzelnen Falle ein Genuſs zu teuer, d. h. mit einem groſsen Leidquantum — erkauft ist, oder daſs ein einzelnes Menschenschicksal einen Überschuſs von Schmerzen über seine Freuden zeige. Jener Durchschnitt selbst ist aber nicht „unverhältnismäſsig“, weil er vielmehr dasjenige ist, woran sich das Verhältnis der Empfin- dungen im einzelnen Falle erst als ein angemessenes oder unangemessenes bestimmt — so wenig wie man sagen kann, der Durchschnitt der Menschen wäre groſs oder klein, da dieser Durchschnitt ja erst den Maſsstab abgiebt, an dem der einzelne Mensch — als welcher allein groſs oder klein sein kann — sich miſst; ebenso, wie man nur sehr miſsverständlich sagen kann, daſs „die Zeit“ schnell oder langsam ver- 7*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/123>, abgerufen am 29.03.2024.